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Vom Schreiben und Spielen

Zum Auftakt der Reihe „Reviergeschichten - Fragen eines lesenden Schauspielers“ traf Dietmar Bär auf Autorin Lisa Roy. Ein intensives Gespräch über die Kunst, Menschen und Schicksale darzustellen

Welche Zutaten braucht eine gelungene Premiere? Leichtes Lampenfieber bei den Akteuren, ehe sie im (idealerweise) vollbesetzen Saal auf die Bühne treten. Spannende Dialoge und am Ende ein begeistertes Publikum, das sich die Hände warmklatscht. Auf Grundlage dieser Gütekriterien war der Auftakt der neuen Reihe „Reviergeschichten – Fragen eines lesenden Schauspielers“ in der Gelsenkirchener „Kaue“ für Moderator Dietmar Bär ein voller Erfolg.
Das zeigte auch die Schlange vor dem Verkaufstisch der Bücher: Fast alle Besucherinnen und Besucher wollten Lisa Roys Roman „Keine gute Geschichte“ nach dem Bühnenprogramm mit nach Hause nehmen. Aus ihrem ersten Buch hatte sie vorher zwei lange Passagen vorgelesen, während sie sich den Fragen des „lesenden Schauspielers“ Bär stellte.

„Den Titel für die Veranstaltung habe ich bei Berthold Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ geklaut.“

— Dietmar Bär las den Brecht-Text zu Beginn vor

Beide verbindet eine Ruhrgebietsbiographie, sie wuchs in Essen-Katernberg auf, er in Dortmund. Und: Beide zog es weg aus dem Pott…
Ähnlich wie Arielle Freytag, die Heldin in Roys Roman. Sie kehrt nach einem gesundheitlichen Zusammenbruch ins Elternhaus zurück, wird dort eindringlich, bisweilen schmerzhaft, mit Vergangenheit und Familiengeschichte konfrontiert. Schlüsselfragen Bärs bei seiner „Weltpremiere“ als Moderator: „Was hat die Jugend im Ruhrgebiet aus ihr gemacht? Wieviel Lisa Roy steckt in der Romanheldin?“

„Für mich war wichtig, dass die Menschen sich beim Lesen wiederfinden und gesehen fühlen. Katernberg war als Ort der Handlung gesetzt.“

— Lisa Roy über die Arbeit an „Keine gute Geschichte“

Karternberg ist überall

„Arielle hat wenig von mir, sie ist als Romanfigur gestaltet. Ich habe vor dem Schreiben überlegt, was ich ihr mitgeben muss und wo sie am Ende sein soll“, erzählt Roy. „Tatsächlich werde ich aber immer wieder nach autobiographischen Bezügen in der Geschichte gefragt.“ Sechs Jahre hat sie an der „unguten“ Geschichte geschrieben, am Ende schaffte die Schwangerschaft den Zeitdruck zur Fertigstellung.
Bär thematisierte an dieser Stelle Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Arbeit beider Künstler. Auch bei ihm als Schauspieler würden Parallelen zwischen Rolle und Darsteller immer wieder hinterfragt. Seine These: „Überzeugend darstellen kann man nur, was auch in einem drinsteckt.“
Die ständigen Perspektivwechsel trugen zum hohen Unterhaltungswert des Dialogs zwischen Schreiberin und Schauspieler ebenso bei wie der emotionale Bezug zum Ruhrgebiet. Mit widersprüchlicher bis gegensätzlicher Wahrnehmung. Romanheldin Arielle erlebt bei ihrer Rückkehr die Straße in Katernberg „beständig in ihrer Beschissenheit“. Auch Lisa Roy empfand den Essener Norden auf der Taxifahrt vom Hauptbahnhof zur Veranstaltung „erstaunlich unverändert“. Die Ambivalenz zwischen Perspektivlosigkeit und Solidarität sei aber keineswegs auf bestimmte Ruhrgebietsregionen begrenzt. Roy: „Wenn man Unterstützung nicht zukaufen kann, braucht es mehr Gemeinschaft. Jemand der sich beispielsweise für das kranke Kind keine Tagesmutter leisten kann, wenn er zur Arbeit muss, braucht die Nachbarn dringender“.

„Es ist nicht gut, wenn alle, die gehen können, tatsächlich gehen. Wenn die Lehrer und Ärzte aus Katernberg alle nach Rüttenscheid ziehen. Wichtig wäre für Kinder, auch Schulfreunde mit gebildeten Eltern zu haben.“

— Lisa Roy

Während sie auch innerlich Distanz zum Tatort des Romans entwickelt hat, ist für Bär der regelmäßige Besuch der Heimspiele von Borussia Dortmund eine emotionale Heimkehr. „Ich mag das Klischee von der Solidarität der Menschen in der Region.“

Der Abend offenbarte vielfach sehr persönliche Seiten beider Protagonisten, etwa im Umgang mit Öffentlichkeit und Ruhm. Lisa Roy sieht sich als „introvertierter Mensch“ in der deutlich angenehmeren Situation, selten erkannt zu werden. „Und wenn ich etwas schlecht formuliert habe, bin ich meist nicht dabei, wenn es gelesen wird.“ Das stellt sich für Bär bei Bühne und TV anders dar. „Aber ich habe Möglichkeiten gefunden, mich in der Öffentlichkeit abzugrenzen“, so der Tatortkommissar.

In der „Kaue“ war eher Nahbarkeit Programm, Roy und Bär mischten sich nach dem Bühnenprogramm unter die Zuschauer, stellten sich für Fotos auf oder schrieben Autogramme. Und beantworteten die eine oder andere Frage von lesenden Ruhrgebietsmenschen…

Happy End ausgeschlossen

Lisa Roys Roman „Keine gute Geschichte“ handelt von Arielle, einer erfolgreichen Social-Media-Managerin, die nach einem Klinikaufenthalt wegen Depressionen gezwungen ist, in ihre alte Heimat im Essener Stadtteil Katernberg zurückzukehren. Dort wird die Suche nach zwei verschwundenen Mädchen zum Auslöser für eine schmerzhafte Konfrontation mit ihrer eigenen Vergangenheit: Als Kind verlor Arielle ihre Mutter, was bis heute ungeklärt bleibt. Der Roman beschreibt schonungslos Themen wie Klassismus, Trauma, Verlust, Identitätssuche und das alltägliche Leben im Ruhrgebietsghetto – Happy End ausgeschlossen. [Quelle: poesierausch]