Wahrheit vs. Wirklichkeit

Spannende Debatte anlässlich der Buchvorstellung nahm die Frage auf: „Wer vermittelt uns ein realistisches Bild unserer Welt?“
Folgen Sie dem Vorschlag von Ex-Verfassungsrichter Peter Müller, dann rollen Sie die „Mission Wahrheit“ am besten von hinten auf!
Bei der Podiumsdiskussion anlässlich der Vorstellung des gleichnamigen Buches stellte der frühere Ministerpräsident und Verfassungsrichter heraus: „Die schwierige Situation der deutschen Medien wird dramatisch deutlich, wenn wir uns mit den letzten drei Beiträgen zum Medienkonsum der jungen Menschen beschäftigen.“
In der Analyse von Hannah Schmitz, einer der drei zitierten Autoren, sieht der mediale Alltag ihrer Altersgenossinnen so aus: „Die klassischen Medien sind für viele Menschen Anfang 20 uninteressant, weil sie nicht so bequem sind wie die neuen Medien. Die wenigsten jungen Menschen nehmen sich die Zeit, um aktiv die Zeitung zu lesen. Aus meinem Bekanntenkreis gibt es niemandem in meinem Alter, der das macht…“

Während Band 6 der Brost-Bibliothek (siehe unten) die Frage nach Rolle und Selbstverständnis der Medien aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet, lieferten auf dem Podium im Hirschlandsaal des Essener Folkwang Museums Stefan Aust, Herausgeber der Tageszeitung „Die Welt“, sowie Eric Gujer, Chefredakteur der „Neue Zürcher Zeitung“, Einblicke in Praxis und Alltag der Redaktionen. Offen, bisweilen entwaffnend ehrlich.
„Journalisten sind unfähig zur Selbstkritik“, konstatierte Gujer. „Wer den Unsinn der 4. Gewalt erfunden hat, müsste heute noch bestraft werden. Er führt nur dazu, dass viele Kollegen glauben, von Berufs wegen Recht zu haben.“
„Moral und Wahrheit haben nichts miteinander zu tun. Wenn wir eine moralische Wahrheit anerkennen, sind wir zurück im Zeitalter der Kreuzzüge.“
— Eric Gujer, Chefredakteur NZZ

Für Aust ist die wachsende Distanz zwischen klassischen Medien und Konsumenten auch eine Frage sinkender Qualität: „Der Diskurs war früher breiter, auch wenn es nur wenige große Verleger gab, die die öffentliche Meinung prägen wollten. Die publizistischen Unternehmen sind sehr arm geworden, wir reden ständig über drohenden Personalabbau. Wenn junge Leute heute Journalist werden wollen, dann nicht um Karriere zu machen, sondern weil sie sich eher als Aktivisten für eine gute Sache fühlen.“
Genau diese Form des „zunehmenden Haltungsjournalismus“ beklagt Müller auch aus juristischer Sicht: „Die Verfassung weist den Medien eine dienende Funktion zu. Es ist nicht Aufgabe der Journalisten, vermeintliche Wahrheiten zu verbreiten. Sondern die Menschen in die Lage zu versetzen, sich eine eigene Meinung zu bilden.“
„Heute darf im Internet jeder Idiot seine Meinung sagen. Und das ist gut so, schließlich darf auch jeder Idiot wählen gehen.“
— Stefan Aust, Herausgeber "Die Welt"
Moderiert von Phoenix-Redakteur Michael Hirz entwickelte sich eine spannende Debatte um Kompetenz, Arbeitsbedingungen, journalistisches Handwerk und schließlich die Bedrohung der Branche durch soziale Medien und künstliche Intelligenz. In der auch Unterschiede zwischen Deutschland und der Schweiz deutlich wurden. „Die deutsche Gesellschaft ist extrem staatsgläubig“, sagte Eric Gujer. „Warum sollten die Medien besser sein, als die Menschen, die sie konsumieren. Deutschland hat die Medien, die zu diesem Land passen.“


„Demokratie braucht Qualitätsmedien. Es kommt nicht von ungefähr, dass totalitäre Systeme als erstes gegen eine freie Presse vorgehen.“
— Peter Müller, Bundesverfassungsrichter a.D.
Dazu gehört ein Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk, dessen Funktion und Finanzierung von den Debattenteilnehmern hinterfragt wurde. Aust kritisierte, dass gegenwärtig nicht mehr das gesamte politische Spektrum repräsentiert werde. Gleichwohl, so Müller, sei der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk das einzige Medium, dem der Gesetzgeber „die Pflicht zur Wahrheit“ aufgetragen habe. In der Analyse der Gebührensituation herrschte Einigkeit bezüglich einer überfälligen Reform.
Blieb schließlich die Frage an die Medienprofis, ob Social Media und KI zur existentiellen Bedrohung werde. Die sozialen Medien betrachtet Stefan Aust inzwischen als integrierten Alltagsbestandteil: „Man sollte nur den zahlreichen Tweets weniger Beachtung schenken, die am Abend in einer Verfassung abgesetzt werden, in der der Blutalkoholspiegel bereits das Autofahren verbietet.“ Peter Müller verwies auf die beunruhigende Entwicklung, dass „die AfD bei Tiktok mehr Follower hat als alle anderen Parteien zusammen“. Und angesichts rasanter technischer Fortschritte unter anderem bei der Entwicklung von KI-gestützten Handys warnte Gujer: „Die Europäer sind gut im Regulieren, aber die Amerikaner schneller im Machen!“
Diskurs ohne Lust am Untergang
Band 6 der Brost-Bibliothek begibt sich auf die „Mission Wahrheit“
Welche Konsequenzen hat das wachsende Spannungsverhältins zwischen Journalisten und Konsumenten in der modernen Medienlandschaf?. In „Mission Wahrheit“, Band 6 im Rahmen der Brost-Bibliothek, kommen kundige Autoren aus Journalismus, Politik und Wissenschaft zu Wort
Das Buch beleuchtet u.a., wie die ständig wachsende Informationsflut und die Verbreitung von Falschnachrichten durch soziale Medien und künstliche Intelligenz unsere Wahrnehmungen beeinflussen und die Qualität der Dialoge beeinträchtigen. Die Brost-Akademie will hier im Bemühen fortfahren, mündigen Bürgern belastbare Fakten zum demokratischen Diskurs an die Hand zu geben.
„Ein Buch wie dieses ist „Meeting Point“ in Zeiten wachsender Unübersichtlichkeit“, kündigt Professor Bodo Hombach, als Präsident der Akademie verantwortlicher Herausgeber, an. „Es ist gelebte Debattenkultur. Es stiftet Bündnisse zwischen Autoren und Lesern. Schon das Inhaltsverzeichnis macht Mut.“

Und es macht vor allem neugierig! „Warum die Demokratie Medien braucht –
auch und gerade im Internetzeitalter“ – mit dieser Frage beschäftigt sich beispielsweise Nathaniel Liminski, Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales sowie Medien des Landes Nordrhein-Westfalen und Chef der Staatskanzlei. Der Journalist und Medienmanager Andreas Rudas versucht unter dem Titel „Wahrheit und Demokratie“ eine
Bestandsaufnahme der aktuellen Medienlandschaft. Und auch das „schwierige Verhältnis der Jungen zu den Nachrichten“ wird im Beitrag des dpa-Journalisten Meinolf Ellers „Zwischen Influencern und TikTok-Timeline“ beleuchtet.
Erik Gujer, Chefredakteur der NZZ, sowie Pioneer-Gründer Gabor Steingart hinterfragen die journalistische Ethik sowie das neue Selbstverständnis der Konsumenten. Über 200 Seiten zum Nachlesen und Nachdenken…
„Die Brost-Stiftung gibt hier Gelegenheit und Ort. Sie erfüllt ihren Auftrag als Teil der Zivilgesellschaft. Ich danke allen, die das so wichtig nehmen wie es ist…Die Mission Wahrheit ist keine Mission Impossible. “
— Prof. Bodo Hombach, Vorstandsvorsitzender der Brost-Stiftung
Lust auf Weiterlesen? Hier die vollständige Brost-Bibliothek:
Band 1
„Auf Streife durchs Revier – Kriminalität und ihre gesellschaftlichen Folgen“
Band 2
„Heimat, Freiheit und Sicherheit – Zur Anatomie eines gespannten Verhältnisses“
Band 3
„Das Leben vom Ende her denken – Einblick in die Palliativmedizin“<
Band 4
„Auffällig unauffällig? – Wahrnehmung, Mediennutzung und politische Einstellungsmuster im Ruhrgebiet“
Band 5
„Rückzug des Staats? Das Spannungsfeld zwischen staatlicher und privater Sicherheit“
Band 6 (in Vorbereitung)
„Mission Wahrheit - Wer vermittelt uns ein realistisches Bild unserer Welt?“
Alle Bände herausgegeben von Prof. Bodo Hombach und erschienen im Tectum-Verlag
Grußwort des Vorsitzenden des Vorstands der Brost-Stiftung, Prof. Bodo Hombach
Mission Wahrheit: Wer vermittelt uns ein realistisches Bild unserer Welt?
Verehrte Damen und Herren,
Anlass unseres Treffens ist das neue Brost-Buch „Mission Wahrheit“. Dass so viele unterschiedliche Autoren mitwirkten, ist spektakulär. Unser Thema ist von nicht zu überschätzender Relevanz. Deshalb auch dieses Treffen mit diesen großartigen, kompetenten Gästen. Auch in Ihrem Namen begrüße ich sehr herzlich:
Die Ihnen längst bekannten Herren Stefan Aust, Eric Gujer und Peter Müller. Herr Michael Hirz vom öffentlich-rechtlichen Sender Phoenix, der die Gebühren rechtfertigt, wird unsere Gäste gekonnt moderieren und protokollgerecht vorstellen.
Natürlich ist „die“ Wahrheit nicht das einzig Wahre. Wahrheit hat gegen Zweifel zu bestehen. Dabei herrscht Asymmetrie: Wahrheit beschreibt das nüchterne Feld überprüfbarer Tatsachen. Der Lüge gehört das unendliche Feld. Der Einbildungskraft. Es ist bittere Erfahrung: Wenn Lüge auf Wahrheit trifft, triumphiert zu oft die Lüge. Halbe Wahrheit ist ganze Lüge. Negativbotschaften, grell präsentiert, beherrschen die Szene. Durch Klimaforschung scheint die Apokalypse wissenschaftlich unbestreitbar geworden. Das ist religiösen Apokalyptikern niemals gelungen. Die Wahrscheinlichkeit der Apokalypse hat sich in alle Verästelungen des Alltags festgesetzt. Eine ungemütliche Allianz von Aufmerksamkeitsvermarktung, Bekehrungswillen und Weltuntergang.
Leben wird als lebensgefährlich betrachtet. Plakatiert wird: „Wir werden sterben.“ Eine nicht widerlegbare Erinnerung an die eigene Endlichkeit. Aus Angst kann Angstlust werden. Die lässt sich fördern, nutzen und ausbeuten. Apokalyptiker leben vom Problem. Sie lösen keines.
Sie wollen kein Apfelbäumchen pflanzen. Tatsächlich werden wir aus der Nachkriegszeit in die Vorkriegszeit politisiert, gesendet und geschrieben. Diplomatie und Abwägung hat Pause. Haltung wird dabei schnell Dogma. Das lässt Zweifel und Einwände nicht zu. Widersprecher gelten als sündhaft und böse. Verfeindungsfallen werden aufgestellt KI kann Propaganda bis ins Intime wirkmächtig personalisieren.
Preisgegebene oder anderswie beschaffte Daten ermöglichen es. Das sind auch private Katastrophen mit Folgen. Ein Horizont schrumpft um Standpunkt. Das kollektive Ergebnis ist Lähmungserscheinung des Denkens. Und auch: Verwilderung politischer Konflikte. Wenn wir nicht mehr sachbezogen ins Gespräch kommen, wird die stille Mitte noch stiller. Die wird sich irgendwann nicht mehr öffentlich an der Demokratie beteiligen oder gar Ämter übernehmen. Aber etliche Zeitgenossen werden vom Gegenwind motiviert. Die schmerzt, dass da was verloren geht – etwa die Unschuld der freien Rede. Von politisch-moralisierenden Oberlehrern fühlen sie sich genötigt – Trotz baut sich auf. Reaktanz wird sozialpsychologisches Massenphänomen. Das ist die Motivation, die sich gegen übergriffige Bevormundung aufbäumt. Die sehnt sich nach Wiederherstellung eingeengter oder eliminierter Freiheitsspielräume. Das kann emanzipatorisch sein. Das kann auch zur geistigen Obdachlosigkeit und organisatorischen Verwaisung führen.
Mephisto raunte: „Es ist schwer, den falschen Weg zu meiden“. Für den sicheren Weg
machen wir nicht genug Primärerfahrungen. Für die uns bildenden Sekundärerfahrungen brauchen wir Medien. Die sollen ein realistisches Bild unserer Welt zeichnen. Aber Medien stehen in Frage. Das standen sie schon immer. Gegenwärtig stehen sie unter besonderem Druck. Macht- und Marktinteressen ringen um die kostbarste Ressource der Massengesellschaft: Aufmerksamkeit. Elektronische Medien sind omnipräsent. Oft mit Schnelligkeit vor Gründlichkeit.
Jemand behauptet, die Erde sei eine Scheibe. Eilfertig wird die Sache mit der Kugel als „umstritten“ beschrieben. Wer das empört zurückweist oder mit Argumenten widerlegen will, gibt dem Fake Zeit und Raum. In der öffentlichen Debatte entsteht dadurch der Ruch einer bedenkenswerten alternativen Option. Im Kampf um Deutungshoheit ist das Methode. Das „alternative Faktum“ ist dabei nicht etwa peinliches Vorkommnis. Medien, die sich auf diese Weise selbst entwerten, sind mitschuldig an verwirrten und verirrten Köpfen. Sie beschleunigen den Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Da ist Gegenhalten angesagt.
Die Brost-Stiftung verbündet sich mit denen, die um guten Journalismus kämpfen. Hölderlin lebte auch in wirren Zeiten. Er schrieb ein trotziges Trostwort: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. Alte Fehler darf man nur vergeben, wenn die Lehren beherzigt werden. Persönlichkeiten, die das tun, kennen wir. Die sind auch hier!
Ein Bauer sagte kürzlich: „Wir brauchen keine schwarze, rote, gelbe oder grüne Zukunft, sondern den Blick auf die Ernte.“ Solch’ Pragmatismus könnte ideologisches Hyperventilieren dämpfen. Das würde Blick und Kraft auf wirkliche Probleme lenken. Professionell arbeitender Journalismus kann Relevantes vom boulevardesken „Beifang“ unterscheiden. Er kann enthüllen, was Macht und Mächtige verbergen wollen. Er ist das Sicherheitsrisiko krimineller Clans in Vorstädten oder Chefetagen. Er soll Haltung zeigen, nicht als polit-moralischer Influencer, sondern als Instanz für ergebnisoffene
Recherche und Unabhängigkeit. Er kann der Argumentationsarmut des öffentlichen Diskurses entgegentreten. Er erzeugt die Öffentlichkeit, in der sich politischer Wille selbstständig bilden und artikulieren kann.
Qualitätsjournalismus ist beauftragt, Fakten und Kriterien zu finden, die sinnvolles Handeln ermöglichen. Er wird anregen statt aufregen. Er ist bereit, sich für die Wahrheit die Hände schmutzig zu machen. Er hat keine verborgene Agenda. Er öffnet einen Erkenntnisweg. Qualitätsjournalismus ist keineswegs auf klassische Medien begrenzt. Aber er fürchtet eilig gestanzte Antworten. Er setzt auf Dialog. Wie wir es heute tun. In anderthalb Stunden werden wir klüger sein, als wir es jetzt sind.
Dafür vorauseilenden Dank.