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„Heimat“ von den Rechten zurückholen

Ministerpräsident Alexander Schweitzer ruft zum bürgerlichen Engagement auf. Emotionale Debatte bei Vorstellung des Buches „Heimat im Wandel“

Es war der Satz des Abends und die Erkenntnis basierte auf belastbaren Zahlen: „Außenseiter im Ruhrgebiet sind nicht die Bewohner mit Migrationshintergrund, sondern die deutsch-nationalen AfD-Anhänger.“ Mit diesem Kommentar überschrieb Forsa-Chef Manfred Güllner einen Teil der Umfrageergebnisse, die er im Rahmen der Buchvorstellung „Heimat im Wandel – das Wir im Revier“, herausgegeben von Professor Bodo Hombach, präsentierte.
Während insgesamt 71 Prozent der befragten Bürger gerne in der Region wohnen, würden 56 Prozent der AfD-Sympathisanten lieber woanders leben. In der repräsentativen Umfrage des Forsa-Institutes im Auftrag der Brost-Akademie nehmen sogar 93 Prozent von ihnen eine Negativentwicklung vor der Haustür wahr!

„Bei aller stolzen Verbundenheit zur Heimat - es wird nicht so bleiben können, wie es ist!“

— Alexander Schweitzer, Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz

Dem Zahlenwerk folgte in der Essener Funke-Lounge ein Vortrag von Alexander Schweitzer, Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, der unter dem Titel „Ohne Heimat keine Demokratie“ die gesellschaftliche Relevanz des Heimatbegriffs reflektierte. Wohlgefühl im persönlichen Lebensumfeld gebe es nicht geschenkt, mit dem sozialen Engagement im Kleinen lasse sich gleichwohl Großes bewegen. „Viele Menschen, die sich heute in politischen Ämtern oder Mandaten engagieren, haben einmal als Klassenpflegschaftsvorsitzende oder im Elternbeirat des Kindergartens angefangen.“

„Eine Gesellschaft in ständiger Umwälzung ist vielleicht Vorbote einer besseren.“

— Prof. Bodo Hombach im Vorwort zum Buch

Zu den Rahmenbedingungen eines „Wir Gefühls“ gehörten selbstverständlich nachvollziehbare politische Entscheidungen, in denen „Nahbarkeit mit Wissen um die Erfordernisse vor Ort“ erkennbar sein sollte. Schweitzers Fazit: „Wir dürfen den Begriff Heimat nicht kampflos übergeben, sondern müssen ihn den Rechten wieder abnehmen.“
Aber was genau verstehen wir unter Heimat? Mit dieser Fragestellung hatte Professor Bodo Hombach, Präsident der Brost-Akademie, Wissenschaftler, Politiker und Schriftsteller zur Mitarbeit am o.g. Buch eingeladen. Entstanden ist (in Kooperation mit der Funke-Mediengruppe) bedenkenswerter und emotionaler Lesestoff auf mehr als 300 Seiten, kluge Gedanken zu kultureller Vielfalt und Identität in Zeiten des Umbruchs. Mit spannenden Perspektivwechseln, die an diesem Abend von einigen der Autoren persönlich vorgetragen wurden, während sie mit Alexander Schweitzer engagiert um einen aufgeladenen Begriff debattierten.

„Mit Heimat sind für mich zwei Dinge verknüpft: Ich fühlte mich gewollt und angenommen. Und es gab die Perspektive zum Aufstieg.“

— Hatice Akyün

In den Erzählungen von Hatice Akyün und Jan Wollitzer offenbarte sich dabei die individuelle Gefühlsvielfalt, die Menschen in Kopf und Herz mit ihrem Zuhause verknüpfen. „Heimat ist für mich das Gefühl, dass ich hier auf die Füße gestellt wurde. Von den benachbarten Menschen aus der Zechensiedlung in Duisburg bin ich mit allem ausgestattet worden, was ich zum Leben brauchte“, berichtet „die Hatti vonne Akjüns“ voller Herzenswärme. Während der in Thüringen geborene Hollitzer bilanzieren muss: „Heimat kommt nicht zurück.“

„Meine Heimat…gibt es nicht mehr. Denn mein Herkunftsland gibt es nicht mehr. Die DDR. 16 Millionen Menschen geht es ähnlich.“

— Jan Hollitzer

Der Journalist beschreibt aus persönlichem Erleben, gestützt auf Zahlen, wie grundlegend sich der Alltag für die Menschen der früheren DDR mit der Wiedervereinigung gewandelt hat. Bis heute beklagten die zurückgebliebenen Thüringer vor allem fehlende Wertschätzung durch die Nachbarn aus dem Westen. „Bei dieser Gefühlswelt konnten AfD und BSW in einem Stimmungswahlkampf erfolgreich sein, in dem nur Begriffe wie Heimat oder Krieg und Frieden plakatiert wurden.“

Diffuse Gefühle des Unbehagens könnten auch im Ruhrgebiet den Parteien am rechten und linken Rand weiter Wähler zutreiben, warnt Güllner.

„Heimat Ruhrgebiet ist nie einfach. Daraus gehen besondere Menschen hervor.“

— Anne Krum

Nur fünf Prozent der befragten Ruhris nehmen einen verbesserten Schutz vor Kriminalität und Gewalt wahr, noch weniger (zwei Prozent) sehen ein gesteigertes Angebot an bezahlbaren Wohnungen! 57 Prozent der Großstadtbewohner fühlen sich nicht mehr sicher. Mit der Vorstellung des Buches „Heimat im Wandel – das Wir im Revier“ macht die Brost-Akademie ein Angebot, Leerstellen im Selbstbild des Ruhrgebiets zu füllen und neue Wege zur Identitätssuche aufzuzeigen.

„In Gesprächen äußern sich immer öfter Frauen, dass sie sich abends nicht mehr allein zum Bahnhof trauen. Wir müssen die Zivilgesellschaft stärken, die Menschen abholen und dabei auch digital ansprechen.“

— Rolf G. Heinze

Fotos: lars heidrich / funke foto services

https://youtu.be/9Fe2TOSD6oc