Glaube, Hoffnung, Untergang
Glaube, Hoffnung, Untergang
Die Premiere von Nora Bossongs „Grabeland“ am Theater Oberhausen forderte Schauspieler und Zuschauer gleichermaßen
In seiner ursprünglichen Bestimmung schafft ein Setzkasten Ordnung. Jeder Buchstabe hat seinen festen Platz, Schriftsetzer konnten blind hineingreifen. Das an diese Holzkiste angelehnte großdimensionale Bühnenbild im Theater Oberhausen bildet an diesem Abend jedoch die Kulisse für eine Welt im Chaos, in der Menschen und Moral zerbrechen, bevor die Katastrophe Gesellschaft und Existenzen endgültig zerstört…
Mittendrin Schorsch (David Lau) und Gustav (Philipp Quest), zwei Bergbaukumpel, die im Deutschland der Nazis mit Seidenraupenzucht der Schufterei unter Tage ein Stück entkommen wollen. Die männlichen Helden in Nora Bossongs Theaterstück „Grabeland“ haben historischem Bezug, tatsächlich wurde die Seidenraupenzucht im Ruhrgebiet einst öffentlich gefördert, weil sie Fallschirme lieferte und nebenbei noch die Arbeitslosigkeit im Revier senkte. 1936 ist das Jahr des Aufbruchs, berauscht von Hitlers Propaganda träumen die Freunde an Neujahr von einem besseren Leben: „Jetzt ist alles möglich, sogar für uns!“
„Eine Seidenraupe frisst in ihrem Leben rund 60 Kilogramm Maulbeerbaumblätter, spinnt pro Stunde bis zu 800 Meter kostbaren Faden“
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Was die Zuschauer aus historischer Rückschau wissen, deutet Bossong schon zu Beginn mit dem Absturz eines Fallschirmspringers an: Das kann nicht gut gehen! So nimmt auch Lotte (Simin Soraya), Schorschs Ehefrau, mit quasi seherischen Fähigkeiten den Lauf der Dinge wahr. „Ich habe jedesmal gehofft, dass sich die Dinge im neuen Jahr zum Besseren wenden“, bremst sie die Euphorie der Männer. „Aber es wurde immer nur noch schlechter für uns.“
Die drei Schauspieler, in ihrer weißen Uniform Seidenraupen nicht unähnlich, bewegen sich krumm und gebeugt, aufrechten Gang verhindert die Setzkasten-Welt, in unterschiedlichen Fächern finden immer neue Dramen und Tragödien statt. Schorsch misshandelt seine Frau regelmäßig im Rausch, sie wendet sich Gustav zu, ein gemeinsames Kind wird erwartet. Die Einnahmen der Raupenzucht ermöglichen den Kauf eines Hauses – allerdings von einem „verschwundenen“ jüdischen Nachbarn.
„Wie die Raupenzucht ist das ganze Volk. Aufopfernd für die Sache. Die Seide. Den Sieg.“
— Bergbaukumpel Gustav beim Jahrestreffen der Raupenzüchter
Nach einem Stimmungshoch im Jahr 1939 treibt am Neujahrtag 1942 das Schicksal die drei Protagonisten (stellvertretend für das deutsche Volk) dem Abgrund zu. Gustav wird eingezogen und fällt – als Fallschirmjäger vom Himmel. Lotte verliert nach erneuter Misshandlung ihr Kind. Zur Niederlage im Krieg und wirtschaftlichem Niedergang kommt die Frage von moralischer Verantwortung und Schuld.
„Ich hätte schon gern die Welt gesehen, bevor sie weg ist.“
— Lotte im Dialog mit Ehemann Schorsch
Nora Bossong hat als Metropolenschreiberin Ruhr 2023 in den Stadtarchiven Gelsenkirchens recherchiert und beklemmende Zahlenwerke ins Stück eingebaut. Die vom Chor-Erzähler Daniel Rothaug anfangs zum Anlass triumphierenden Verkündungen werden am Ende zur Bilanz des Schreckens: Allein 1402 Menschen starben in Gelsenkirchen im Jahr 1942. Stellvertretend für eine ganze Generation rechtfertigt Lotte in einem Gänsehaut-Monolog ihr Mittun am tausendfachen Töten der Zuchtraupen, die als „volksfremde Körper“ letztendlich auch den Lebensraum der einheimischen Natur gefährdet hätten. Die Terminologie schlägt die Brücke zu Massenvernichtung, Holocaust und der Verantwortung des Einzelnen.
„Für mich als Autorin ist es ein ganz besonderer Moment, wenn der eigenen Text auf der Bühne zu leben beginnt. Die Regisseurin Kathrin Mädler hat mit Feingefühl, großem Verständnis für den Text und einer großartigen eigenen Bildsprache das Stück inszeniert und die schauspielerische Leistung war so präzise wie intensiv. Das Bühnenbild und die Kostüme haben dem ganzen einen eindrücklichen, ja bedrückenden Rahmen gegeben, was sehr gut zur Beklemmung der Schächte, der Zeit und der Lebensläufe der Figuren passt.“
— Nora Bossong hat das Theaterstück im Rahmen ihres Aufenthaltes als Metropolenschreiberin 2023 verfasst
In der Inszenierung von Intendantin Kathrin Mädler (Bühnenbild Franziska Isensee) wird „Grabeland“ zu einem intensiven Theaterabend, der Schauspieler und Zuschauer gleichermaßen fordert. Nora Bossong wollte der Frage nachgehen, wie eine Gesellschaft derart moralisch korrumpiert werden kann bis sie unkritisch in den Abgrund rennt. Angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen, nicht nur in Deutschland, sollte die Fragestellung erweitert werden: Wie lässt sich eine Wiederholung der Geschichte verhindern…?!