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Sicherheitsgefühl im Ruhrgebiet

Sicherheitsgefühl im Ruhrgebiet

Ein Beitrag von Prof. Dr. Andreas M. Marlovits

Das Ruhrgebiet ist ein Ballungsraum, den es in dieser Dichte und Vielfalt in Europa kein zweites Mal gibt. Im Rahmen einer Untersuchung der Brost-Stiftung und der Funkemedien Gruppe sollte eruiert werden, wie Menschen, die im Ruhrgebiet ansässig sind und leben, das Ruhrgebiet erleben. Dabei standen im Zentrum der Untersuchung Fragen nach dem Ruhrgebiet als Heimat. Welche Prozesse führen dazu, dass das Ruhrgebiet – oder sind es einzelne Gegenenden oder Städte des Ruhrgebiets – als Heimat erlebt werden? Was ist in diesem Falle mit Heimat überhaupt gemeint? Gibt es so etwas wie eine Ruhrgebietsidentität und wenn ja, was ist damit eigentlich gemeint?

 

In den Sozialwissenschaften werden mittlerweile unterschiedliche Methoden angewandt. Neben Messverfahren, die mittels Zahlen statistische Größen von Meinungen und Einstellungen widerspiegeln, haben sich in den letzten gut vierzig Jahren eine Vielzahl qualitativer Verstehensansätze entwickelt, deren forscherische Zielrichtung nicht die möglichst statistisch valide Verteilung von vorhandenen Meinungen, sondern die gezielt auf Verstehenszusammenhänge ausgerichtet sind. Dazu werden in der Regel deutlich weniger Menschen befragt, diese aber dafür sehr umfassend und lange.

Im Rahmen der Untersuchung zum Leben im Ruhrgebiet wurde eine solche qualitative Methode – die Morphologische Psychologie – zum Einsatz gebracht. Insgesamt wurden 60 Personen aus verschiedenen Teilen – städtisch geprägten wie ländlichen – des Ruhrgebiets in Form von sechs psychologischen Gruppendiskussionen mit einer Dauer von zwei Stunden pro Gruppendiskussion befragt. Ziel dieser Gesprächsform ist es, einen möglichst offenen und urteilsfreien Diskussionsraum anzubieten, in dem Menschen über das Untersuchungsthema frei erzählen können und sich die Thematik damit in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen, Wendungen und Unterschiedlichkeiten zeigen kann. Das Ziel ist nicht eine glatte Meinung zu erhalten, sondern der spannungsvollen Komplexität der Thematik zum Ausdruck zu verhelfen.

 

Eine Gruppendiskussion ermöglicht eigene Haltungen aufzuwerfen, auf die von anderen Gruppenteilnehmern resoniert und Bezug genommen werden kann. So entsteht eine sehr intensive, diskussionsfreudige Runde, in der Meinungen, Haltungen, Einstellungen geäußert werden können, die üblicherweise in sehr kurz und direktiv gehaltenen Fragebogenuntersuchungen auf der Straße oder Online der Gefahr unterliegen, stark sozial erwünschte Antworten zu erhalten.

 

In den Gruppendiskussionen befragt wurden Menschen des mittleren und unteren Sinus-Spektrums. Die Altersspanne reichte nahezu gleichverteilt von 20 bis 70 Jahre und alle Probanden sollten seit mindestens 10 Jahre im Ruhrgebiet leben. Von den 60 Probanden sollten 15 Probanden auch einen türkischstämmigen familiären Hintergrund aufweisen.

Die Menschen aus dem Ruhrgebiet lieben das Ruhrgebiet

In der ersten Stunde der zweistündigen Diskussionsrunden dominierten über alle Gruppengespräche hinweg leidenschaftliche Liebesbekundungen zum Ruhrgebiet. Menschen, die im Ruhrgebiet leben, schätzen das Ruhrgebiet in vielfacher Weise und haben über die Jahre eine intensive Bindung an das Ruhrgebiet entwickelt. Besonders überzeugend erlebt man die unglaubliche Vielfalt des Ruhrgebiets. Damit sind verschiedenste Landschaftsformen gemeint, die sich in kürzesten Wegstrecken mit einer Vielfalt an städtischen Eindrücken abwechselt. Mit Vielfalt sind aber auch eine betörende Fülle an Einkaufsmöglichkeiten oder kulturellen Angeboten gemeint, die sich über einen überschaubaren Großraum erstrecken. Vielfalt bezieht sich aber auch auf die unterschiedlichsten Menschen des Ruhrgebiets mit ihren vielfältigen kulturellen Abstammungen und Herkommen. Vielfalt zeichnet das Ruhrgebiet und seine Menschen aus und macht diesen Lebensraum aus Sicht der Befragten so lebenswert.

 

Ebenso leidenschaftlich und mit Stolz gepaart spricht man über den Wandel, den das Ruhrgebiet seit vielen Jahrzehnten zentral kennzeichnet. Von der Kohle zum Stahl zur new science hat sich das Ruhrgebiet mehrfach grundsätzlich gewandelt und wandeln müssen. Wo gestern noch die Wäsche beim Trocknen schwarz wurde ist heute höchste Luftqualität. Die Befragten fühlen sich mit ihren Familien als Teil und Träger dieses Wandels. „Unsere Väter und Mütter so wie wir heute auch haben den Wandeln getragen“, so eine der Aussagen eines der Befragten.

Zur Bildung des Heimatgefühls zum Ruhrgebiet erscheint den Befragten die gemeinsame Ruhrgebiets-Mentalität wichtig. Diese wird durch eine herzliche Direktheit und Geradlinigkeit, gepaart mit einem großem Gemeinsinn versehen beschrieben. „Mit unserer Sprache und der Art, wie wir zueinander sind, erkennt man den Menschen aus dem Ruhrgebiet überall. Wir verstehen uns in dem, wie wir sind.“ Über diese Mentalität entsteht eine Nähe der Menschen untereinander und die wird täglich gelebt und gepflegt. Wichtig ist den Menschen zudem, dass das Ruhrgebiet als Raum erlebt wird, der (noch) leistbar ist. Das Wohnen, die Preise sind so, dass man mit (s)einem geringen Einkommen auch noch leben und sich etwas leisten kann. Dafür verzichtet man auf den einen oder anderen ästhetischen Anspruch in der Gestaltung von städtischen Räumen.

 

Die Identität der Menschen aus dem Ruhrgebiet, das sie als Heimat erleben, umfasst noch einen weiteren Aspekt. Die tägliche Erfahrung des Lebens im Ruhrgebiet ist eine Erfahrung des Übergangs. Feste Grenzen bzw. Grenzziehungen zwischen Städten oder Abschnitten werden nicht aufgebaut, weil sie auch wenig Sinn machen. „Wenn man den Fuß vor die Tür setzt ist man ja gleich in einer anderen Stadt.“ Die Städte des Ruhrgebiets ähneln sich, sodass eine Grenzziehung auf Basis von einer elitären Besonderheit auch nicht möglich ist. Ganz im Gegenteil. Man schätzt den Übergang von einem ins andere, von der einen Stadt in die nächste, von der Stadt zum Land und schnell wieder in die Stadt. Die Topologie des Ruhrgebiets formt so auch einen wesentlichen Strukturzug der Identität seiner Menschen. Grenzen oder Abgrenzungen sind nicht Sache des im Ruhrgebiet lebenden Menschen. Er setzt mehr auf Verbindendes.

Die Menschen aus dem Ruhrgebiet haben ernsthaft Sorge um ihr Ruhrgebiet

In der zweiten Stunde der Gesprächsrunden kamen immer stärker Sorgen zum Ruhrgebiet zum Vorschein. Aufgrund der offenen Gesprächsatmosphäre fassten die Menschen Vertrauen und berichteten auch ihren Sorgen und Nöten zu ihrem Alltag und Leben im Ruhrgebiet.

 

So kränkt der Verfall von Innenstädten, das Ausdünnen von Einkaufsmöglichkeiten die Attraktivität der Vielfalt. Manche Innenstädte bieten nur noch ein trauriges Bild, in dem Verfall und Leerstand spürbar werden. Prosperierendes ist einer Öde gewichen und es bleibt einem nur noch übrig, in andere Städte auszuweichen, wo es etwas weniger schlimm erscheint. In die gleiche Kerbe schlagen Schließungen kommunaler Orte und Einrichtungen wie Spielplätze, Turnhallen oder Schwimmbäder. Auch auf Vereinsebene stellt man eine Ausdünnung des Angebots fest. „Ich musste zu sieben Vereinen mit meinem Sohn gehen, damit er dann endlich bei einem Fußballspielen konnte. Alle anderen sagten, sie hätten keine Jugendgruppen mehr, weil sie keine Trainer hätten.“

 

Anstelle eines Wandels erlebt man vielerorts im Ruhrgebiet Stagnation und Stillstand. Groß angekündigte Projekte stehen still, gehen nicht voran, scheitern. Die Fahrten zwischen den Städten werden zu Geduldsproben, weil man im Verkehr festsitzt. Alternativen mit öffentlichen Verkehrsmitteln stellen sich als keine dar, da die Bahn selbst mit massiven Problemen der Pünktlichkeit und Verlässlichkeit zu kämpfen hat und öffentliche Verkehrsverbünde ihre eigenen Preisregeln haben, die einen schnellen Wechsel von einem Verkehrsverbund verunmöglichen.

 

Vielen Befragten machen die deutlich spürbaren Teuerungen der letzten Jahre zu schaffen. Einige mussten bereits ihre bisherigen Wohnmöglichkeiten verlassen, weil sie sich die teurer gewordenen Wohnungen nicht mehr leisten konnten. Die Teuerungen des täglichen Lebens setzen viele Menschen mit wenig Einkommen unter Druck bzw. lassen die Attraktivität des Ruhrgebiets deutlich schwinden. Insgesamt erscheinen die aktuellen Entwicklungen, die die Befragten aus ihrem Leben zum Ruhrgebiet berichten können, besorgniserregend. Immer wieder wurde der Hinweis getätigt, dass der Lebensraum Ruhrgebiet deutlich an Attraktivität verliert und Entwicklungen aktuell in keine gute Richtung gehen.

Je länger die Gespräche andauerten, umso deutlicher kristallisierte sich ein thematischer Schwerpunkt heraus, der bei den befragten Menschen mit großen Sorgen und massiven Gefühlen des Unwohlseins behaftet war. Im Kontext täglich spürbarer gesellschaftlicher Veränderungen stellen sich für die Menschen im Ruhrgebiet konkrete Fragen zur Sicherheit. Insbesondere Frauen formulieren Gefühle des Unwohlseins und der Bedenken. Sie erleben im Alltag Respektlosigkeiten und verbale Übergriffe mit sexueller Tönung, die ein freies Bewegen besonders in den Innenstädten einschränkt. Sogar Männer formulieren ihr Unwohlsein, wenn sie städtische Räume aufsuchen müssten, in denen der Anteil von ausländischen Mitbürgern sehr hoch sei. Männer würden in größeren Gruppen und teils mit aggressivem Verhalten auftreten, sodass man aus Deeskalationsabsicht dann das Feld räumt.

 

Besonders bedrohlich und besorgniserregend erlebt man das Etablieren und die Aktivitäten von Clans, die aufgrund ihres Verhaltens Lebensräume einschränken, sie selbst in ihren Bewegungsräumen aber wenig eingeschränkt werden. So hat man das Gefühl, dass sich eigene Rechtsräume ausbilden, in denen die Regularien des Staates nicht gelten und die Staatsmacht auch nichts mehr ausrichten kann. Dem aggressiv getönten Treiben solcher Gruppierungen fühlt man sich stark ausgeliefert. In Einzelfällen musste man auch schon den Wohnort wechseln und wurde von kriminell erscheinenden Gruppen vertrieben. „Ich habe in der Straße in Duisburg über 40 Jahre gelebt, bin dort aufgewachsen. Dann haben sich zwei Clans in der Straße festgesetzt und täglich ist da was passiert. Als sie dann vor meiner Tür standen und meinten, es wäre besser, ich würde gehen, dann hab ich mich so stark bedroht gefühlt, dass wir dann aufs Land gezogen sind.“ Insbesondere Befragte mit türkischem Abstammungshintergrund können die lasche Haltung des Staates gegenüber aggressiv auftretenden Clans nicht verstehen. Grundsätzlich wünscht man sich ein friedliches Miteinander und wenn notwendig auch ein entschiedenes Einschreiten der Staatsmacht gegen Vereinigungen, die die eigenen Werte des Zusammenlebens täglich missachten.

 

Unverständlich erscheint den Befragten aus dem Ruhrgebiet die täglich erlebte Erfahrung, dass bestimmte Zuwandergruppen wenig Integrationswillen aufweisen. Das verletzt das Selbstverständnis des Menschen aus dem Ruhrgebiet, weil er – egal welcher Herkunft – dazu aufgefordert war, sich selbst in einer Vielfalt zu integrieren und trotz Unterschiedlichkeit ein Miteinander zu entwickeln. Das sei auch vielfach gelungen. Heute hat man das Gefühl, dass viele Zuwanderer aufgrund des sehr großen kulturellen Unterschieds keinen oder wenig Integrationswillen zeigen. Diese Form der Grenzziehung erscheint nicht tolerierbar. Man erlebt sich dieser Tendenz allerdings ausgeliefert.

Klare Forderungen an die Politik

Die Befragten formulieren sehr klar Forderungen an die Politik. Man möchte weiterhin im attraktiven Lebensraum Ruhrgebiet leben. Dazu ist man bereit, auch selbst einen Beitrag zu leisten, erwartet aber von der Politik auch entsprechendes Handeln. Im Kern wünscht man sich ein Weiterbestehen des sozialen Miteinanders im Ruhrgebiet, ein trotz Unterschiedlichkeit gelebtes Miteinander in Toleranz und Akzeptanz. Jegliche Formen des Abgrenzens und Isolierens muss eine Absage erteilt werden. Ein hartes Einschreiten gegen kriminelle Strukturen wird ebenso gefordert wie der Wunsch, durch verschiedene Initiativen die Lebensräume in den Städten wieder geöffnet zu bekommen. „Ich will mich einfach sicher fühlen, wenn ich durch die Stadt gehe und nicht mehrfach beschimpft oder bedroht werden.“  Dazu wünscht man sich auch eine stärkere Präsenz der Polizei im Alltag und die Legitimation zu einem stärkeren Eingreifen der Organe mit einer entsprechenden Rechtsprechung, die das kulturelle Erbe des Ruhrgebiets auch schützt.

Ein Beitrag von Prof. Dr. Andreas M. Marlovits

Prof. Dr. Andreas M. Marlovits studierte Psychologie, Theologie und Sportwissenschaften an den Universitäten Köln und Graz. Promotion an der Universität Hamburg. Seit mehr als 20 Jahren qualitative Forschung in den Bereichen Gesellschaft, Kultur, Produkte, Marken. Seit 2011 auch Professor für Sportpsychologie an der BSP Berlin und in freier Praxis tätig als Sportpsychologe im professionellen Fußball und Tennis.