Fühlt sich Zuhause noch wie Heimat an?

Fühlt sich Zuhause noch wie Heimat an?
Neue Studie und eine spannende Podiumsdiskussion liefern bedenkenswerte Aspekte zum „Wir im Pott“
Warum sollte man einem Ruhrgebietsmenschen unbedingt mindestens zwei Stunden zuhören, wenn er seine Alltagsbefindlichkeiten beschreibt? Weil Sie sonst nur die halbe Wahrheit erfahren! Zu dieser Erkenntnis kommt Prof. Dr. Andreas M. Marlovits im Rahmen einer Studie, die er im Auftrag der Brost-Akademie durchgeführt hat. Eckpunkte der „Qualitativ-psychologischen Wirkungsanalyse“ stellte der Psychologe am Donnerstagabend zum Auftakt der Diskussionsveranstaltung „Auf der Suche nach dem Ruhrgebiet“ im Funke Eventcenter in Essen vor.
„Es gab zwei völlig unterschiedliche Bilder des Lebensgefühls“, berichtet Marlovits. In der ersten Stunde im Verlauf der sechs Gruppendiskussionen wurde von den Teilnehmern ein attraktiver Lebensraum vor der eigenen Haustür beschrieben, der sich zum Beispiel durch Vielfalt, Erreichbarkeit und Stolz auf den erreichten Wandel auszeichnete. Dann änderte sich das Bild der Erzählungen, teilweise hinter vorgehaltener Hand, sprachen die Menschen über Unsicherheit und Ängste, Gefühle von Fremdheit in der eigenen Heimat, Schilderungen von Vertreibung aus dem Stadtviertel ergänzten Stichworte wie „Verödung von Innenstädten“. Die Ergebnisse basieren auf einer breiten Befragung von 60 Personen, darunter Menschen aus dem Ruhrgebiet und mit türkischer Abstammung.
„Wir sollten mehr über das sprechen, was Menschen verbindet und nicht darüber, was Menschen trennt. Um aus dem Schlechten das Gute und daraus das noch Bessere zu machen.“
— Ministerin Ina Scharrenbach
Als Historiker wies der frühere Metropolenschreiber Per Leo auf Wellenbewegungen im Heimatbewusstsein hin, immer wenn Veränderungen sich anbahnten, habe „Heimat“ Konjunktur. Leo: „Das Gefühl von Bedrohtheit erzeugt Heimatgefühl.“ Der in München aufgewachsene Schriftsteller warnt vor einer Politisierung des Gemeinschaftsbegriffes, Heimatgefühl lasse sich in einer großen Region wie dem Ruhrgebiet nur schwer erzeugen: „Das Gelingen von Heimat entscheidet sich direkt vor der eigenen Haustür.“
In der täglichen Berichterstattung erlebt Jost Lübben den Wandel von Ortsverbundenheit und Tradition: „Immer mehr junge Leute schließen sich Schützenvereinen oder der freiwilligen Feuerwehr an. Darunter sind immer mehr Frauen. Gleichzeitig kommt die Digitalisierung in den Vereinen voran.“ Er sieht den täglichen Spagat zwischen einer „liebevoll-sympathischen“ Begleitung der regionalen Ereignisse, bei der man Probleme wie die Innenstadtverödung oder das Chaos auf der A45 ebenso deutlich benennen müsse.
„Das Ruhrgebiet kennzeichnet eine Konstante: der radikale Wandel. Jede Transformation führte zum völligen Verschwinden der vorherigen Lebensgrundlagen. Das Agrargebiet wurde von der Montanindustrie abgelöst, die jetzt ihrerseits fast vollständig verschwunden ist.“
— Per Leo, Schriftsteller und Historiker
Die von den Ruhrgebietsbürgern beklagten Defizite, die ein positives Lebensgefühl verhindern, lassen sich in der Einschätzung von Ina Scharrenbach nur bedingt politisch beeinflussen. „Die Landesregierung hat ein Millionenprogramm gegen den Leerstand in Innenstädten aufgelegt, das nur bedingt erfolgreich war. Veränderungen im öffentlichen Raum zur Steigerung der Aufenthaltsqualität oder zur Verbesserung der Sicherheit werden oft nicht angenommen.“
Beim Stichwort Sicherheit dürfe es jedoch keine Kompromisse geben: „Es kann nicht sein, dass sich Frauen aus bestimmten Bereichen der Öffentlichkeit zurückziehen, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen. Aus Furcht, angemacht oder beschimpft zu werden von Menschen, die ein anderes Frauenbild haben. Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen sind Werte, die für mich persönlich zwingend zur Heimat gehören.“