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Der andere Blick im Oktober: Ein literarisches und künstlerisches Projekt über das Ruhrgebiet

Ein kubanischer Germanist und ein bildender Künstler begeben sich auf eine faszinierende Spurensuche durchs Ruhrgebiet

Ein Beitrag von Jesus Irsula

Es war die letzte Augustwoche, und in der Schreibervilla liefen die Vorbereitungen für ein besonderes Ereignis auf Hochtouren. Es handelte sich um die Einschulung der Enkelin des Autors, Nina Irsula Carballo. Arian und Claudia, ihre Eltern, konnten es kaum erwarten. Auch der Opa blickte mit Spannung auf diesen Tag, und während er das Einladungsschreiben betrachtete, erinnerten ihn die bevorstehenden Feierlichkeiten an seine Studienzeit in Leipzig, an der Karl-Marx-Universität. Damals hatte er die Einschulungen von Kindern von Freunden und Kollegen miterlebt. Nun, viele Jahre später, durfte er selbst diesen Moment für seine Enkelin erleben – diesmal nicht in Ostdeutschland, sondern mitten im Ruhrgebiet.

Die Einschulung war und ist für Kinder überall auf der Welt ein wichtiges Ereignis. Sie markiert den Beginn eines neuen Lebensabschnitts: Lernen in der Gemeinschaft Gleichaltriger, erste Begegnungen mit Lehrerinnen und Lehrern und die allmähliche Ablösung vom Elternhaus. An diesem Tag steht das Kind im Mittelpunkt und wird feierlich von seiner Familie und seiner Schule willkommen geheißen. Ein untrennbares Symbol dieses Tages ist die Schultüte – oder „Zuckertüte“. Sie ist ein kegel- oder spitztütenförmiger Karton, meist bunt geschmückt und mit Süßigkeiten, kleinen Spielsachen und Schulmaterialien gefüllt. In manchen Regionen, etwa in Sachsen und Thüringen, sind die Schultüten besonders groß; im Ruhrgebiet dagegen sind sie kleiner, aber nicht weniger liebevoll gestaltet. Früher gab es hier sogar Bergbau-Schultüten, verziert mit Schlägel und Eisen oder in Form einer Grubenlampe – ein Hinweis auf die enge Verbindung von Schule und Bergbautradition in dieser Region. Nina hatte ihre „Zuckertüte“, die in den Tagen vor der Einschulung schrittweise gefüllt wurde. Freunde der Familie trugen dazu bei, auch Barbara, die Nachbarin der Schreibervilla, kam mit einem Mitbringsel für die Schultüte.

In der Heimat des Autors, Kuba, beginnt das neue Schuljahr am 1. September. In der DDR war auch für alle Schulen der 1. September Schulstart. Das hat sich nach der Wiedervereinigung geändert; nun ist es wie in Gesamtdeutschland von jedem Bundesland geregelt. Während in Leipzig (Sachsen), der Studienheimat des Autors, der Unterrichtsbeginn 2025 auf Montag, den 11. August, fiel, war es im Ruhrgebiet (NRW) am 27. August und in Schleswig-Holstein am Montag, dem 8. September. In Deutschland wie in Kuba wird die erste Phase der Schulbildung Grundschule genannt. Hier dauert sie in der Regel vier Jahre (1. bis 4. Klasse), auf der Karibikinsel umfasst die Grundschule die 1. bis 6. Klasse. In Deutschland folgt nach der Grundschule eine Selektion, bei der die Kinder je nach ihren Leistungen und den Empfehlungen der Lehrer auf verschiedene weiterführende Schulen wechseln.

Nina selbst war in den Tagen vor der Einschulung sichtbar aufgeregt. „Bist du bereit für morgen?“, fragte der Opa sie am Vorabend. – „Nein, noch nicht“, entgegnete sie lachend. Doch Angst hatte sie nicht. Sie ist ein lebendiges, fröhliches Kind, dunkelblond, europäisch wirkend – und doch mit einem unverkennbar kubanischen Temperament. Ihre Deutschkenntnisse sind nach wenigen Wochen im Kindergarten zwar noch begrenzt, doch Kinder lernen Sprachen schnell. Sie sind wie Schwämme und saugen Erfahrungen auf, die sich rasch in Kenntnisse verwandeln.
Nach dem kurzen Aufenthalt im Kindergarten wurde mithilfe der Brost-Stiftung und Freunden der Familie eine Schule für Nina in der näheren Umgebung der Schreibervilla ausgesucht. Die Gemeinschaftsgrundschule „Krähenbüschken“ liegt nur wenige Minuten entfernt, in Stripchens Hof 20 in Broich. Die Schule feierte vor kurzem ihr 50-jähriges Bestehen. Der Name gefiel dem Autor sehr: „Krähenbüschken“ klingt freundlich, fast märchenhaft – ebenso wie die Namen der Klassen, in die die Schulanfänger eingeteilt wurden: Löwen, Frösche und Eisbären. Nina gehörte fortan zu den Eisbären.

Der 28. August kam, und die Familie machte sich auf den Weg zur Einschulungszeremonie. Pünktlich gemäß dem an die Eltern verteilten Programm, um 10.30 Uhr, nahmen die Erstklässler auf den Bänken und Turnmatten direkt vor der Bühne Platz. Für die Eltern waren die Sitz- und Stehbereiche im hinteren Teil der Turnhalle reserviert. Für jedes Schulkind waren zwei Erwachsene und ein jüngeres Geschwisterkind zur Einschulungszeremonie vorgesehen. Die übrigen Gäste durften auf dem Schulhof verweilen und waren zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Die Eltern wurden bereits in der Einladung gebeten, die Schultüten während der Feier und der Schulstunde zu behalten. Nach der Begrüßung der Schüler und ihrer Familienangehörigen gab es eine kurze Aufführung der älteren Kinder mit Gesang. Danach wurden die stolzen Erstklässler auf die Bühne gerufen und fotografiert. Anschließend stand die erste Unterrichtsstunde an: Die Schulanfänger gingen mit ihren Tornistern und ihren Patenkindern in die Klassenzimmer. Nina hatte schon Wochen vor der Einschulung von ihrer Patin einen liebevoll gestalteten Brief mit Herzen und einem Eisbären bekommen: „Liebe Nina, ich bin deine Patin. Ich heiße Frida. Du brauchst keine Angst zu haben. Deine Frida.“

Ninas Patin kennt sich aus und kann Schulanfängern helfen, denn sie ist Teil einer pädagogischen Praxis, die dem Autor bis dahin unbekannt war: dem jahrgangsübergreifenden Lernen (JÜL) in der Schuleingangsphase (1. und 2. Klasse). Mit anderen Worten: Erstklässler werden gemeinsam mit Zweitklässlern in einer Klasse unterrichtet – den sogenannten JÜL-Klassen. Dieses Modell wird seit dem Jahr 2000 deutschlandweit praktiziert und ist in den Schulgesetzen der Bundesländer festgelegt. JÜL-Klassen sind besonders geeignet, damit Kinder unterschiedlichen Alters, mit verschiedenen Kompetenzen und Entwicklungsständen, gemeinsam mit älteren, erfahreneren Schülern lernen. Hier passt das Motto der Krähenbüschken-Grundschule: „Miteinander leben, voneinander lernen, Schule weiter denken“. Da Kinder unterschiedlich schnell lernen, können in JÜL-Klassen Lernfortschritte flexibler berücksichtigt werden. Das ermöglicht eine variable Verweildauer in der Schuleingangsphase: Ein Kind kann sie in einem, in zwei oder in drei Jahren absolvieren, ohne dabei die vertraute Lernumgebung zu verlassen. Ein weiterer Aspekt der JÜL-Klassen ist die soziale Entwicklung: Ältere Kinder übernehmen Rollen als Vorbilder und Helfer, Jüngere profitieren davon. Das stärkt Kooperation, Selbstständigkeit und Konfliktfähigkeit. Genau das ist auch die Rolle von Ninas Patin Frida, die ihr zudem beim Spracherwerb zur Seite steht. Nach seiner Recherche meint der Autor, die Stärke der JÜL-Klassen liege in besserer sozialer Interaktion, einer positiven Lernatmosphäre, Integration und gegenseitiger Unterstützung. Beste Voraussetzungen also für Ninas Start in einen neuen Lebensabschnitt. Für die Familie Irsula Carballo bedeutet das ein Kapitel voller Stolz, Dankbarkeit gegenüber allen Beteiligten und Zuversicht.

Zum Abschluss dieser Reportage gehören die Worte der Schulleiterin und Lehrerin von Nina aus einem schriftlichen Austausch mit dem Opa: „Es ist mir eine große Freude, Nina unterrichten zu dürfen. Sie ist ein sehr aufgewecktes, kluges Mädchen.“

Der Autor beendet diese Reportage mit dem universellen Motto:

„Kinder sind die Hoffnung der Welt.“

José Martí (1853–1895), kubanischer Dichter, Denker und Unabhängigkeitskämpfer. Er schrieb diesen Satz 1889/1891 in seinem berühmten Kinderbuch „La Edad de Oro“ („Das goldene Zeitalter“), das er für lateinamerikanische Kinder verfasste.