Raum geben zum Leben

Raum geben zum Leben
Deutsche Kinderhospiz Dienste unterstützen Familien mit todkranken Kindern. Oft kommt zur seelischen auch die materielle Notlage.
Es ist ein Moment des reinen Glücks – eigentlich. Nach der Geburt schneidet Vater Daniel die Nabelschnur durch, Mutter Laura wartet darauf, den kleinen Emil wärmend in die Arme zu schließen. „Und dann hatte er den ersten Krampfanfall“, erzählt der Vater. „Er hat die ganze Zeit geschrien, den Kopf immer zu einer Seite gedreht und ein Bein angezogen.“ Es folgt eine erschütternde Diagnose, die seit inzwischen drei Jahren das Leben der Familie überschattet: Emil hat einen Gendefekt, seine Gehirnhälften sind nicht richtig miteinander verbunden. Er kann weder sehen noch sprechen, ist unfähig, sich zu bewegen. Laura und Daniel betreuen den Kleinen, gemeinsam mit zwei Geschwisterkindern, rund um die Uhr.
Emils Geschichte ist kein Einzelfall – rund 100.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland sind von einer lebensverkürzenden Krankheit betroffen. Mehr als 1.450 allein in der Region Dortmund/Bochum. Eine weitere Zahl wirft noch ein besonderes Licht auf die herausfordernde Situation der Familien: Nicht einmal zehn Prozent von ihnen werden von den bestehenden Angeboten erreicht, beispielsweise von ambulanten Kinder- oder Jugendhospizdiensten begleitet. Weniger als 130 also in der genannten Ruhrgebietsregion. „In diesem Dunkelfeld zu leben, bedeutet, den Weg in soziale Isolation und fehlende Teilhabe zu gehen“, erklärt Thorsten Haase, Gründer und Vorstand der Deutschen Kinderhospiz Dienste in Dortmund. „Dieser Weg endet oft in völliger Verzweiflung.“
„Es ist eine sehr beklemmende Vorstellung, dass Familien mit einem sterbenskranken Kind auch noch in eine finanzielle Notlage geraten. Vielfach aus mangelnder Kenntnis von Unterstützungsstrukturen. Dagegen wollten wir als Sozialbeirat der Brost-Stiftung etwas unternehmen.“
— Prof. Dr. Jürgen Rüttgers, Vorsitzender des Sozialbeirates der Brost-Stiftung, der sich einstimmig gegenüber dem Vorstand für die Projektförderung ausgesprochen hat
„Die Unerreichten erreichen“ – ein neues Netzwerk entsteht
Mit Unterstützung der Brost-Stiftung kämpft der Verein für Entlastung und Beistand der Familien, das gemeinsame Projekt „Die Unerreichten erreichen“ will Netzwerke aufbauen, in denen die umfangreichen Möglichkeiten zur Unterstützung an Betroffene herangebracht werden. „Insbesondere Familien mit vielfältigen Problemlagen und prekären Verhältnissen wissen oft nicht, welche Möglichkeiten und Ansprüche sie haben“, sagt Luisa Wiegand, geschäftsführende Vorständin der Deutschen Kinderhospiz Dienste. Beim Besuch von Prof. Dr. Jürgen Rüttgers, Vorsitzender des Sozialbeirates der Brost-Stiftung, vor Ort in Dortmund beschreibt sie die klassische Abwärtsspirale, in die viele Eltern und Geschwisterkinder durch den schicksalhaften Einschnitt geraten.
„In der Regel bleibt ein Elternteil zu Übernahme der Pflege zu Hause, damit fällt ein Einkommen weg. Weitere finanzielle Herausforderungen entstehen durch den notwendigen Umbau der Wohnung, Kosten für spezielle Hilfsmittel oder Behandlungen, die von den Krankenkassen nicht übernommen werden. Nicht selten sind die Familien nach dem frühen Tod des Kindes auch finanziell ruiniert.“
Um an dieser Stelle zu unterstützen, hat Maria Acil im Oktober 2024 in Dortmund im Rahmen des Projekts „Die Unerreichten erreichen“ ihre Arbeit als Netzwerkkoordinatorin aufgenommen. Die Sozialpsychologin ist unterwegs in Jugendämtern, Förderschulen oder Selbsthilfegruppen, besucht Fortbildungsveranstaltungen beispielsweise für Hebammen und Pränatalmediziner. Acil: „Es geht primär darum, auf allen möglichen Wegen Betroffene zu erreichen und dabei auch das gängige Bild von Hospizarbeit zu korrigieren. Für viele Menschen ist sie immer noch auf die Lebensphase mit Sterben und Tod bezogen.“ Dabei kann der Ambulante Kinder- und Jugendhospizdienst Dortmund oft schon viel früher helfen, etwa bei der Verhandlung mit Krankenkassen oder Behörden. Und vor allem in den Geschwistergruppen, die Schwestern und Brüder der Schwerstkranken oder bereits Verstorbenen auffangen. Die Vermittlung von ehrenamtlichen Helfern schafft darüber hinaus oft Momente der Entlastung im fordernden Alltag.


„Wir warten nicht, bis wir angerufen werden, sondern sprechen die Familien aktiv über unser Netzwerk an. Unsere Verantwortung ist es, die Unsichtbaren sichtbar zu machen und ihre Lebensqualität und Lebensfreude so lange wie möglich zu erhalten.“
— Thorsten Haase, Geschäftsführender Vorstand Deutsche Kinderhospiz Dienste

Perspektive über das Ruhrgebiet hinaus
Innerhalb eines Zeitraumes von drei Jahren will Maria Acil über den Aufbau eines effizienten Netzwerkes die Zahl der betreuten Familien signifikant erhöhen, aus der Initiative im Ruhrgebiet soll ein bundesweit umsetzbares Modellprojekt entstehen.
Emils Mutter bringt die vielfältige Unterstützung trotz der oft verzweifelten Situation ein Lächeln ins Gesicht: „Es tat gut, dass da auf einmal Menschen waren, die uns Mut gemacht haben. Mut, Gefühle zuzulassen und zu erzählen, wie herausfordernd unser Leben ist und wie verzweifelt wir manchmal sind. Mut aber auch dahingehend, eine palliative Versorgung für Emil in Anspruch zu nehmen und dabei nicht direkt an seinen Tod denken zu müssen.“
So bleibt kein Kind allein
Der aufsuchende Ansatz von Maria Acil über Institutionen wie Förderschulen ist im kinderhospizlichen Kontext deutschlandweit völlig neu. Der von der Brost-Stiftung geförderte Ausbau eines Netzwerkes ermöglicht die Begleitung von bis zu 200 bisher unversorgten Familien, deren soziale Isolation und Verzweiflung damit abgemildert werden kann. Die Metropole Ruhr bietet ideale Bedingungen für dieses Modelprojekt, das die Arbeit der Kinderhospiz-Dienste nachhaltig stärkt.