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Reflexionen eines Metropolenschreibers im April

Eine Beitragsreihe aus dem Herzen des Ruhrgebiets

Erinnerungen aus der Zukunft: Manche Ecken des Ruhrgebiets erwecken den Eindruck, dass sie von unserer Gesellschaft zurückgelassen worden wären. Über das Gefühl eines kollektiven, sozial hochbrisanten Scheiterns

Als ich im Oktober vergangenen Jahres ins Ruhrgebiet kam, hatte ich eine Zeitlang immer wieder kurz den Eindruck, in einer anderen Zeit gelandet zu sein. Es waren wie kleine Wahrnehmungsstörungen, die mich verwunderten und manchmal irritierten und für die ich vor allem nicht die richtigen Worte fand. Wenn ich mit dem Bus durch bestimmte Gegenden Essens und Mülheims fuhr, wenn ich in Oberhausen in einem Café saß, an einem der hiesigen Trinkhallen-Kioske vorbeiging oder mein Blick über die Regale eines kleinen Supermarkts streifte, fühlte sich ein Teil von mir in die Nachwendezeit zurückversetzt, die ich als Jugendlicher in Mecklenburg-Vorpommern als sehr intensiv empfunden hatte. Es war eine bestimmte, in die Jahre gekommene Ästhetik, die für den Eindruck sorgte, bestimmte Gerüche, die Erinnerungen wachriefen, ein gewisser Verfall oder Konsumprodukte, die ich seither nicht gesehen hatte. Eine wie unter einer Glasglocke erhaltene Version Westdeutschlands, die damals, in den Neunzigerjahren, neu und aufregend gewesen war, und jetzt seltsam historisch wirkte. Mit der Zeit flauten diese sensitiven Fehlleistungen ab. Ich gewöhnte mich an meine Umgebung.

Kürzlich, als ich ein Literaturfestival in München kuratierte, musste ich wieder an diese ersten Eindrücke denken. Nach einer Veranstaltung über das Ringen nach einem gesellschaftlichen Zusammenhalt saßen die Referierenden, die Moderatorin und ich bei einem kleinen Abendessen zusammen und führten das Gespräch, das auf der Bühne begonnen hatte, weiter. Wir waren um Zuversicht bemüht und wir wollten fest daran glauben, dass sich unsere Demokratie nicht so einfach von den bedrohlichen Lügen und Aggressionen der extremen Rechten aus der Bahn werfen ließe. Doch unser Gespräch war von den jüngsten Umfrageergebnissen überschattet, in denen sich jene extreme Rechte daranmachte, die stärkste Partei des Landes zu werden. Wir fragten uns, ob es angesichts der Tatsachen naiv sei, an die Resilienz über Jahrzehnte gewachsener und kulturell verankerter demokratischer Strukturen der Teilhabe zu glauben. Wir wussten es nicht.

Eine der Anwesenden erzählte in einer jener Gesprächspausen, die so typisch sind, wenn sich eine gewisse gemeinsame Ratlosigkeit manifestiert, von ihren Erfahrungen bei einer ihrer letzten Reisen durch das Ruhrgebiet. Sie sei nicht überrascht von den dortigen starken Wahl- und Umfrageergebnissen der Rechtsextremen, meinte sie, als sie mit dem Auto durch kleinere Ortschaften und durch einige Bezirke von Gelsenkirchen und anderen Städten fuhr, fühlte sie sich immer wieder an bestimmte Regionen Bulgariens und Rumäniens erinnert. Und mit einem Flair für das Dramatische fügte sie hinzu, dass man jenen südosteuropäischen Ländern damit wahrscheinlich unrecht täte. Ich selbst konnte diesen Eindruck nicht so teilen, wusste aber trotzdem, was sie meinte. Was sich im flächendeckenden Investitionsstau der Region zeigte, in ihrem punktuellen Verfall, ihrer Verarmung, ihrem schlechten Nahverkehr und dem Zurücklassen ganzer Bevölkerungsgruppen, war genau das Scheitern jener Strukturen der Teilhabe, auf deren Resilienz wir so hofften.

Seit jenem Gespräch fahre ich mit anderen Augen durch das Ruhrgebiet. Und jene anfänglichen Eindrücke einer konservierten Neunzigerjahre-Zeit treten wieder häufiger in den Vordergrund meiner Wahrnehmung, wenn ich die heile Welt von Mülheim-Uhlenhorst mit seinen Doppelhaushälften, Villen und Tennisclubs verlasse, wenn ich mich nicht gerade in einem der großartigen Museen oder einem der wunderbaren Theater- und Opernhäuser der Region bin. Was ich sehe, ist das Scheitern eines Strukturwandels. Das Ergebnis von Jahrzehnten der Ausbeutung der Erde, die nur einigen wenigen großen Reichtum gebracht hat und der Mehrheit der Menschen nur einen vorübergehenden Wohlstand. Und was sich in mir verankert, wenn ich mir anschaue, wie wenig gegen diese Ungerechtigkeit getan wird, wie wenig echte soziale und menschliche Politik auch von der zukünftigen Bundesregierung avisiert wird, ist ein Gefühl der Niedergeschlagenheit. Eine dunkle Ahnung, dass dem punktuellen Scheitern jener demokratischen Strukturen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Teilhabe immer auch ein flächendeckendes Versagen werden kann.