Reflexionen eines Metropolenschreibers im März

Eine Beitragsreihe aus dem Herzen des Ruhrgebiets
Dissoziation im Alltag - Wenn Wegsehen zum Überlebensprinzip wird
Vergangenen Montag schlenderte ich nach meiner Tennisstunde recht fröhlich durch Mülheim-Uhlenhorst nach Hause und freute mich, dass sich ein paar frühlingshafte Sonnenstrahlen zeigten, als ich vor dem Haus, in dem ich wohne, den Lastkraftwagen eines Gerüstbauunternehmens stehen sah. Die beiden Mitarbeiter des Unternehmens waren gerade dabei, auszusteigen, als ich an ihnen vorbeiging und in den Eingangsbereich des Hauses einbog. Einem von ihnen sah man seine politische Überzeugung schon zehn Meter gegen den Wind an. Als er mich sah, wollte er mit Geräuschen und Körperbewegungen auf sich aufmerksam machen, die er in seiner Fantasie mit Femininität und schwulen Männern verband, auch wenn diese in der Realität weder etwas mit Femininität oder Queerness zu tun haben. Ich war schockiert.
Viele queere Menschen müssen schon früh im Leben lernen, mit derartigen Beschimpfungen und Drohungen umzugehen. Auch ich gehöre zu ihnen. Meine schon lang unbewusst ablaufende Strategie, mit solchen Situationen umzugehen, besteht in einer ganz klassischen Form von Dissoziation. Ich gehe weiter, ignoriere das Geschehen und tue so, als würde es mir nicht auffallen. Völlig automatisch schirme ich mich dagegen ab. Ich ging in das Haus, schloss die Tür doppelt hinter mir zu, legte die Sportsachen ab und stellte mich erschöpft unter die Dusche.

Seit einiger Zeit muss ich häufiger über die Mechanismen psychischer Dissoziation nachdenken, die einen dazu bringen, bestimmte Wahrnehmungen abzuspalten und Bedrohungen, auch akute, zu ignorieren, weil man weiß, dass man gegen sie im Moment nichts ausrichten kann. In vieler Hinsicht ist es nicht die schlechteste Bewältigungsstrategie und meist setzt sie, wie gesagt, ohnehin von selbst ein. Man sucht sie sich nicht aus und kann sie auch nicht bewusst steuern. Häufig ist es zumindest keine unangemessene Reaktion auf das Geschehen. Doch genauso häufig ist sie es auch nicht, etwa, wenn Bedrohungen permanent werden und wir uns durchgehend in einen dissoziativen Zustand begeben.
Ich habe den Eindruck, dass es mir seit einigen Monaten genau so geht. Jeden Morgen lese ich die Nachrichten aus den USA, einem Land, in dem ich lange gelebt habe und das ich liebe, und kann nicht fassen, was dort passiert. Jeden Morgen verfolge ich, wie die Ukraine von Russland weiter den Erdboden gleichgemacht wird. Jeden Morgen denke ich, wie stark es das neu gewählte politische Personal der Bundesrepublik an Regierungskompetenz und Menschlichkeit vermissen lässt, den Mindestanforderungen an die Regierung eines demokratischen Landes. Und jeden Morgen schließe ich die Nachrichtenseiten, verdränge alles, was ich gelesen habe, und versuche, trotzdem halbwegs positiv in den Tag zu starten und mein Leben zu führen.
Vielen Menschen, die ich kenne, geht das ähnlich. Wir leben in einer Zeit, in der Dissoziation für viele von uns zu einer permanenten Überlebensstrategie geworden ist. Und gerade während meines Aufenthalts im Ruhrgebiet, in einem wohlhabenden Viertel Mülheims, fällt mir diese Dissoziation relativ leicht. Es ist ein ruhiges Viertel, in dem wenig passiert, in dem die Nachbarinnen und Nachbarn nett sind und sich zumindest auf der kleinen Straße, in der das Haus steht, freundlich grüßen. Bei meinen Reisen durch die Region suche ich mir die schönsten Orte als Ziele aus, die interessantesten Museen, Theater- und Opernhäuser, die hübschesten Waldstücke. Man kann hier seinen Alltag sehr gut so selektiv bestreiten, dass man sich immer sagen kann, dass eigentlich alles in Ordnung sei – auch wenn man weiß, dass das Gegenteil der Fall ist. Nur manchmal wird man aus dieser Form der stetigen Dissoziation katapultiert – etwa, wenn man am Abend der Bundestagswahl feststellen muss, dass die Zweitstimmen der Menschen in Gelsenkirchen mehrheitlich an jene rechtsextreme Partei gingen, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die demokratische Ordnung unseres Landes ein für alle Mal zu zerstören.
Die psychischen Kosten von dissoziativen Zuständen sind höher als man sich eingestehen möchte. Aus einem Schutzbedürfnis heraus opfert man die Ganzheit seines Seins, bringt bestimmte Wahrnehmungen und Gefühle zum Schweigen, ohne sie zu verarbeiten. Ein weiteres Problem der Dissoziation besteht darin, dass sie nichts an der Situation, die sie ausgelöst hat, verändert. Mehr noch, letztlich unterstützen dissoziative Zustände die kaum erträgliche Ausgangssituationen sogar.
Als ich aus der Dusche kam, stellte ich fest, dass die beiden Gerüstbauer dabei waren, das Baugerüst vor meinem Haus aufzubauen. Mir hatte niemand Bescheid gesagt, dass das geschehen würde. Ich machte alle Jalousien und Fensterläden zu und stellte laut Musik an. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und versuchte zu arbeiten, was mir nur schlecht gelang. Meine Psyche war damit beschäftigt, das Geschehen wegzudrücken. Ich dachte auch darüber nach, ob es möglich wäre, sich bei dem Gerüstbauunternehmen zu beschweren und stellte dann fest, dass ich nicht wusste, worüber ich mich eigentlich beschweren sollte. Der Bauarbeiter hatte nicht wirklich etwas gesagt und ich hatte sofort weggesehen, als ich merkte, dass er mich homophob beleidigen wollte. Kann man sich darüber beschweren, dass jemand seltsame Geräusche macht? Dass jemand ein schlechter Mensch ist? Wie geht man mit Aggressionen um, die so weit gehen, dass sie als Drohgebärde wahrgenommen werden, aber nicht wirklich zum Ausbruch kommen? Ich hatte das Geschehen so gut weggedrückt, dass ich nicht mehr genau sagen konnte, was passiert war. Was zurückblieb, war ein schlechtes Gefühl. Mich selbst betreffend, aber auch bezüglich dessen, wie wir kollektiv auf die beängstigenden Veränderungen unserer Lebenswelt reagieren. Ein Gefühl der Ratlosigkeit und der Lähmung.