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Reflexionen eines Metropolenschreibers im Januar

Eine Beitragsreihe aus dem Herzen des Ruhrgebiets

Man muss es sich erarbeiten …

Das Leben als schreibende Person geht meist damit einher, dass man viel Zeit in Zügen verbringt. Man fährt quer durchs Land, von Stadt zu Stadt, und wieder zurück, und kurz über lang entwickelt man die Fähigkeit, die Bahn-typischen Herausforderungen mit selbstverständlicher Geduld zu tolerieren. Letztlich kommt man immer irgendwo an, weiß man, was doch schon etwas ist. Zudem beginnt man, sich wirklich über die guten Seiten des Bahn-Fahrens zu freuen. Neulich zum Beispiel kam eine ziemlich nette Mitfahrerin zu meinem Sitz, um mir zu sagen, dass ihr meine Bücher viel bedeuteten. Wir unterhielten uns fast eine Stunde über Gott und die Welt, unter anderem über das Ruhrgebiet, aus dem sie stammte und in das ich fuhr. Als ich ihr von meinen Erfahrungen hier berichtete, sagte sie nur weise nickend: „Ja, ja, das Ruhrgebiet muss man sich erarbeiten.“
Auch wenn ich wusste, dass sie recht hatte, war das nicht notwendigerweise das, was ich hören wollte. Denn mich beschlich die Ahnung, dass es noch eine Weile dauern könnte, bis ich mir diese Region und das Leben hier, erarbeitet hätte. Wenn das Ruhrgebiet eine Person wäre, würde man sie als eine Mischung aus schnodderig und spröde bezeichnen. Es streckt die Arme nicht unbedingt weit aus, um einen willkommen zu heißen. Wenn man es besser kennenlernt, entdeckt man viele herzliche, schöne und manchmal ganz grandiose Seiten, doch sein Interesse daran, dass man es kennenlernt, hält sich wirklich in Grenzen.

Mit großer Hingabe etwa gehe ich in die hiesigen Theater, Opern, Konzerthäuser und Museen, mehrmals die Woche, und häufig mache ich dabei Erfahrungen, die lange bei mir bleiben, vom kleinen grandiosen Tanzstück im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen bis zur großen Operninszenierung in der Duisburger Oper am Rhein. Da ich kein Auto fahre, benutze ich den öffentlichen Nahverkehr, um dorthin zu gelangen. Gerne würde ich behaupten, ich hätte mich inzwischen daran gewöhnt, dass Busse regelmäßig unangekündigt ausfallen, auch wenn sie ohnehin schon im nicht gerade luxuriösen Halbstunden-Takt fahren. Oder dass es diese anderthalb toten Abendstunden zwischen elf und halb eins gibt, wenn die letzten regulären enden und die ersten Nachtbusse starten, in denen nichts, rein gar nichts fährt, und man die 50 Gehminuten zum Haus im Vorort auch gleich zu Fuß zurücklegen kann.

Und manchmal glaube ich sogar daran, dass ich mich damit arrangiert hätte, doch dieser Glaube ist trügerisch. Heute morgen etwa nahm ich wie gewohnt eine Straßenbahn früher als die, die mich laut Plan rechtzeitig zum Duisburger Bahnhof gebracht hätte, um zu einer Lesung in Norddeutschland zu fahren. Auf eine etwas selbstgefällige Weise muss ich zugeben. Ich war mir sicher, dass ich verstanden hatte, wie es hier läuft. Allerdings erwischte ich einen recht klapperigen, fast schon als antik zu bezeichnenden Straßenbahnwagen, der erst sehr langsam fuhr und dann einen Halt vor meinem Ziel ganz den Geist aufgab. Immer noch guter Dinge wartete ich auf die nächste Straßenbahn. Genau für solche Situationen hatte ich ja dieses halbstündige Sicherheitspuffer eingebaut, dachte ich. Doch die kam um einiges zu spät und fuhr drei Minuten vor Abfahrt meines ICEs in den Bahnhof ein, der an diesem Tag leider zu der Handvoll von Zügen im Land gehörte, die pünktlich abfuhren. Auf die sprichwörtliche Minute pünktlich. Ich war selbst von mir überrascht, wie schnell ich laufen konnte. Keuchend und dem Zugbegleiter zuwinkend schaffte ich es noch fast rechtzeitig auf den Bahnsteig. Doch die Zugtüren schlossen sich und ich konnte nur noch so verzweifelt wie vergeblich immer wieder den Türknopf des ersten Wagens drücken, bevor sich der ICE ohne mich in Bewegung setzte.

Ich musste mir schließlich ein neues Ticket für einen Zug zwei Stunden später buchen. Und um den Ärger auf mich selbst zu vertreiben - warum hatte ich mir nicht einfach ein Taxi gerufen? - ging ich ins Lehmbruck-Museum, das nicht weit vom Duisburger Hauptbahnhof liegt. Der Besuch dort wirkte tatsächlich wie Balsam für meine kleine, geschundene Seele. Das auf die moderne Skulptur spezialisierte Museum war ein Geschenk. Es hat beeindruckende Sammlung und in ihm herrscht eine schon fast meditative Atmosphäre, die einen so von sich einnimmt, dass der Ärger verblasst und der Lärm im Kopf verstummt. Regelrecht glücklich kehrte ich danach wieder zum Bahnhof zurück. Dass der zweite Zug erwartbare 20 Minuten zu spät kam, machte mir kaum noch etwas aus. Irgendwann würde ich schon irgendwo ankommen, dachte ich. Das Bahnfahren hatte ich mir erarbeitet, und mit diesem Ruhrgebiet hier würde mir das auch noch gelingen.