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Über schöne Momente im Ruhrgebiet und die Irrationalität der Trauer

Die Antrittslesung des neuen Metropolenschreibers Ruhr: Daniel Schreiber

Wie lebt es sich zwischen Duisburg und Dortmund, zwischen Bottrop und Hagen? Und was unterscheidet das Ruhrgebiet von anderen deutschen Landstrichen? Antworten auf diese Fragen findet seit Oktober 2024 der aktuelle Metropolenschreiber Daniel Schreiber. Auf Einladung der Brost-Stiftung verbringt der Berliner Autor ein Jahr im Ruhrgebiet. Die Aufgabe: die Region kennenlernen, aus seiner persönlichen Perspektive betrachten und literarisch erfassen.
Zu seiner Antrittslesung am 22. Januar 2025 im Essener Filmstudio Glückauf war die „Hütte voll“. Mit der Kölner Moderatorin und Journalistin Bettina Böttinger plauderte Schreiber über besondere Orte, über das Ankommen und Zuhausesein – und über den großen Luxus, Platz zu haben. Zusätzlich las er aus seinem aktuellen Buch „Die Zeit der Verluste“, in dem er sich mit privater und gesellschaftlicher Trauer befasst.

„Ich glaube, dass Orte einen immer prägen und dass man immer die Möglichkeit hat, Dinge zu lernen, die außerhalb des eigenen Horizonts liegen. Das ist das größte Geschenk, wenn man sich an anderen Orten aufhält.“

— Daniel Schreiber

„Man muss sich auf einen neuen Ort einlassen.“

Ein neues Hobby (Tennis), direkt vor der Tür ein Wald mit guten Laufstrecken, ein eigener Wäscheraum. Keine schlechten Voraussetzungen für Metropolenschreiber Daniel Schreiber, um im Ruhrgebiet anzukommen. Doch was gehört eigentlich dazu, damit man ankommt, fragte Bettina Böttinger zum Einstieg. „Ich denke, man muss innere und äußere Arbeit machen. Einerseits muss man sich auf einen neuen Ort einlassen, man muss dort ankommen wollen. Aber man muss auch die äußeren Bedingungen so schaffen, dass sie für einen angenehm sind. Meine Wohnung zum Beispiel: Sie ist toll, ich habe wahnsinnig viel Platz. Sogar einen eigenen Wäscheraum im Keller, davon habe ich immer geträumt. Trotzdem musste ich die Wohnung erst einmal umräumen, damit ich mich dort wohlfühle.“

Die anfängliche Angst, sich im Ruhrgebiet vielleicht einsam zu fühlen, konnte Schreiber zügig loswerden: „Als schreibende Person muss man die Fähigkeit entwickeln, auch mal gern allein zu sein. Das kann ich gut, aber es hat natürlich eine Grenze. Spätestens nach zwei Tagen muss ich jemanden sehen, mit jemandem sprechen. Das geht im Ruhrgebiet wirklich gut, man kommt hier sehr leicht mit Menschen in Kontakt. Das empfinde ich als sehr angenehm, nicht überall ist das so einfach.“

„Die Museumsdichte ist der Wahnsinn!“

In den vergangenen Monaten hat Daniel Schreiber bereits einige Highlights des Ruhrgebiet kennengelernt: Zeche Zollverein, Musiktheater im Revier – vor allem die Museen haben es ihm angetan: „Die Museumsdichte – und gerade die Dichte hochkarätiger Museen – in dieser Region ist der Wahnsinn. Besonders beeindruckt mich, dass die Museen als Oasen konzipiert wurden, nicht nur für gebildete Menschen. Auch Arbeiter*innen sollen hier Anteil an Kultur haben. Vergangene Woche habe ich aufgrund der Mülheimer Straßenbahn meinen Zug nach Berlin verpasst, also war ich spontan im Lehmbruck-Museum in Duisburg. Ich war begeistert von dieser tollen, gut kuratierten Ausstellung!“ Schreibers Lieblingsort ist bislang das Museum Quadrat in Bottrop.

Doch mindestens ebenso charakteristisch für die Region sind die weniger schönen Seiten des Ruhrgebiets: strukturelle Probleme, ärmere Gegenden, sanierungsbedürftige Bahnhöfe. Auch die hat Daniel Schreiber bereits kennengelernt. Als Kind Mecklenburg-Vorpommerns erinnern ihn diese Orte an Ostdeutschland in der Zeit nach der Wende: „Ich hatte hier zu Beginn oft Flashbacks. Dass Dinge plötzlich anders aussahen, verändert oder erneuert wurden. Das gibt mir eine Beziehung zu dieser Region.“

„Die Zeit der Verluste“ – schönen Dingen mehr Bedeutung geben

In seinem jüngsten Werk „Die Zeit der Verluste“ befasst sich Daniel Schreiber mit dem Thema Trauer – aus privater ebenso wie aus gesellschaftlicher Perspektive. Wie gehen Menschen um mit dem Bewusstsein, etwas unwiederbringlich verloren zu haben oder zu verlieren? „Trauer ist irrational“, betonte Schreiber. „Man macht Dinge, die man nicht machen will, die einem völlig irrsinnig vorkommen. Mein Vater ist an Lungenkrebs gestorben – und doch habe ich in genau dieser Zeit wieder angefangen, zu rauchen.“

„Auch als Gesellschaft gehen wir durch diese Prozesse“, fuhr Schreiber fort. „Uns wird bewusst, dass wir Dinge verlieren – zum Beispiel Solidarität, Natur, Toleranz und Vielfalt. Doch wie wir darauf reagieren, ist nicht rational. Wir steuern nicht dagegen, wir kämpfen nicht. Stattdessen verdrängen wir und gehen wie betäubt durch die Welt.“

In seinem Buch kommt Daniel Schreiber zu dem Schluss: „Wir erkennen die glücklichen Momente im Leben nur selten.“ Könnte in diesem Gedanken ein Ansatzpunkt liegen, um dem aktuellen Hass in der Welt zu begegnen? „Es ist neurologisch verankert, dass wir uns an negative Erfahrungen besser erinnern als an positive“, erklärte Schreiber. „Indem wir Verluste verdrängen, fühlen wir insgesamt weniger, sowohl positive als auch negative Gefühle. Doch es gehört zum Leben, zum Erwachsensein dazu, auch die glücklichen Momente zu erkennen und zu kultivieren. Nur wenn es uns gelingt, den schönen Dingen mehr Bedeutung zu geben, erkennen wir, was wir bewahren und wofür wir kämpfen müssen. Weil wir diese Dinge lieben.“

Welches literarische Werk aus Schreibers Zeit im Ruhrgebiet entstehen soll, steht noch nicht fest. Aktuell liebäugelt der Wahlberliner mit einem Theaterstück.