Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Haarkötter über Qualitätsjournalismus und die „vierte Gewalt“
Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Haarkötter über Qualitätsjournalismus und die „vierte Gewalt“
Qualitätsmedien sind für das Funktionieren der Demokratie von entscheidender Bedeutung. Umso alarmierender ist die derzeitige Krise, in der sie sich befinden. Neben den wirtschaftlichen Herausforderungen bedroht auch das schwindende Vertrauen der Bevölkerung in die Berichterstattung die Rolle der Medien als „vierte Gewalt“. Gerade in Zeiten von Social Media und Fake News ist die einordnende Funktion der Qualitätsmedien jedoch unverzichtbar. Die Brost-Stiftung leistet mit dem neuen Förderschwerpunkt „Qualitätsjournalismus“ einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der demokratischen Kultur in Deutschland.
Prof. Dr. Hektor Haarkötter ist Kommunikationswissenschaftler und Geschäftsführer der Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) e.V. Im Vorfeld unserer Veranstaltung „Die vierte Gewalt im Staat? – Wird der Qualitätsjournalismus seiner Rolle noch gerecht?“, die am 05. September 2024 in der Stadthalle Mülheim an der Ruhr stattfindet und von Haarkötter moderiert wird, haben wir über einige Themen schon einmal mit ihm gesprochen.
Herr Prof. Dr. Haarkötter, wie stehen Sie zum Begriff „Vierte Gewalt“? Können Sie eine Einschätzung geben?
Ich sehe den Begriff der vierten Gewalt aus verschiedenen Gründen skeptisch: Wenn Medien und Journalismus in Deutschland Macht oder Gewalt gehabt haben sollten, dann ist diese heute doch sehr stark erodiert. Die Relevanz von Journalismus auf Gesellschaft und gesellschaftliche Entwicklungen hat aus meiner Sicht genau in dem Maße nachgelassen, in dem auch das Interesse des Publikums für Journalismus in Deutschland nachgelassen hat.
Ich favorisiere die Rolle des „stillen Beobachters“ also einer Person, die tatsächlich versucht, mit großer Objektivität und einer vielleicht auch manchmal angestrengten Neutralität auf die Dinge zu blicken, und die auch versucht, uns das als Rezipienten und Rezipientinnen objektiv und neutral weiterzugeben, und dafür braucht man keine Gewalt und keine Macht. Ich glaube, wenn Journalistinnen und Journalisten das für sich reklamieren, dann ist das oft eine Art von Vermessenheit oder beruflicher Arroganz, die schon immer fehl am Platze war.
Ist die angesprochene Neutralität auch einer der zentralen Punkte, der in besonderem Maße die Qualitätsmedien auszeichnet?
Neutralität und Objektivität gehören natürlich wesentlich zusammen und machen schon einen Kern des Qualitätsjournalismus aus. Es kommen dann sicherlich noch andere Kategorien oder Kriterien hinzu, die einen qualitätsvolleren Journalismus von einem anderen unterscheiden.
Zur Pressefreiheit gehört im Übrigen auch die Meinungsfreiheit, und niemand will einem Journalisten und einer Journalistin verbieten, auch eine politische Meinung zu formulieren. Für mich persönlich als Staatsbürger und begeisterter Zeitungsleser muss ich aber sagen, die Meinungen von Journalisten und Journalistinnen sind das, was mich am allerwenigsten interessiert. Ich denke, dass der normale Rezipient sehr genau zu unterscheiden weiß, was eine möglichst objektive Berichterstattung über die Welt da draußen ist und was der Käse, den irgendjemand anderes da dazu tut.
Aber wer steht denn noch für den Qualitätsjournalismus, den Sie gerade skizziert haben?
Ich denke wir haben ganz schön viel Qualitätsjournalismus in Deutschland. Das fällt mir immer auf, wenn ich im Ausland unterwegs bin. Auch dort gucke ich immer, was im Fernsehen läuft, was es noch so am Zeitungskiosk zu kaufen gibt etc. Und in vielen – auch in westeuropäischen oder südeuropäischen – Ländern gruselt es einen doch in zunehmendem Maße, wenn man sich anguckt, in welcher Verfassung dort die Medien sind.
Eine Kategorie von journalistischen Medien, die es in vielen Ländern gar nicht mehr gibt oder womöglich gar nie gegeben hat, nämlich die Regionalzeitung, ist immer noch das, was ein Großteil der Menschen, die überhaupt noch Zeitung lesen, bei uns hier in Deutschland rezipieren. Die Leute interessieren sich für das, was in ihrem Vorgarten los ist und gar nicht unbedingt für die große Weltbühne, ganz im Gegenteil, die steht meistens im Interesse ziemlich weit hinten.
Und wenn ich mir angucke, was die FAZ macht, was die Süddeutsche macht und auch mit gewissen Abstrichen vielleicht die taz in Berlin – das ist schon alles ein äußerst engagierter Journalismus, der nach wie vor mit viel Aufwand betrieben wird. Das sieht man auch daran, dass das alles Blätter sind, die sich noch eigene Korrespondenten und Korrespondentinnen im Ausland oder zum Teil in den verschiedenen Bundesländern und Landeshauptstädten leisten.
Nehmen Sie Medienskepsis wahr?
Die nehme ich in der Tat wahr, aber ich halte sie durchaus für etwas Positives. Skepsis heißt ja, ich bin kritisch gegenüber einer Information und ich versuche dem auf den Grund zu gehen, ob da etwas dran ist oder nicht. Man sollte immer hinterfragen. Okay, die behaupten, das war jetzt zwar bei der DPA, aber stimmt es auch wirklich? Nennen die mir Quellen? Haben die Belege, haben die Stimmen, Dokumente, Beweise für das, was sie behaupten? Guter Journalismus liefert das. Also ist Skepsis aus meiner Sicht eine demokratische Qualität und gehört wesentlich zu unserem Mediensystem dazu.
Inwiefern haben die sozialen Medien heutzutage die ehemaligen Leitmedien, die Qualitätsmedien, abgelöst?
Die Abrufzahlen von Journalismus online sind eine Katastrophe. Eines der am meisten geklickten journalistischen Medien in Deutschland ist spiegel.de und die Nutzungszeit von spiegel.de liegt bei 9 Minuten pro User - und zwar im Monat! Das sind Bruchteile von Minuten am Tag.
Bei Rezipienten und Rezipientinnen ist die Aufmerksamkeit rapide gesunken. Leute schaffen es gar nicht mehr, länger als 100 Sekunden bei einem Artikel zu bleiben. In hundert Sekunden lesen Sie aber keinen Artikel. Die klassische Verweildauer auf TikTok- oder YouTube-Videos ist inzwischen eine halbe Minute, dann wird weiter geswiped. Ich merke das an Studierenden, und jeder, der mit jungen Leuten zu tun hat, macht die gleiche Erfahrung. Einem Studierenden zu sagen, lies mal dieses Buch von Adorno bis nächste Woche – das funktioniert nicht mehr. Alles, was über 10-, 15-seitige Paper hinausgeht, überfordert heute Studierende. Und Studierende sind die Menschen, die den höchstmöglichen Bildungsabschluss in unserer Gesellschaft erlangen wollen. Da haben wir uns ein wirklich sehr, sehr großes gesellschaftliches Problem aufgehalst, was massive Auswirkungen auch auf den Journalismus hat und damit auch auf unsere Demokratie. Und diese Prozesse beschleunigen sich extrem. Wir brauchen, glaube ich, eine neue Medienaufklärung, um die Leute aus dem, wo sie sich selbst verschuldet reinmanövriert haben, auch irgendwie wieder rauszuholen.
Die Veranstaltung „Die vierte Gewalt im Staat? – Wird der Qualitätsjournalismus seiner Rolle noch gerecht?“ findet am Donnerstag, den 05. September 2024 in der Stadthalle Mülheim, Theodor-Heuss Platz 1, 45479 Mülheim an der Ruhr statt. Beginn ist um 18.00 Uhr, Einlass ab 17.30 Uhr. Hier können Sie sich kostenlos anmelden!