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Getanzte Zukunftsbotschaft

Zu Till Brönners Musik inszenierte Choreographin Nicole Beutler Szenen aus dem Leben im Pott. Fantastische Tänzer begeisterten bei der Premiere

Als keiner mehr mit ihm rechnet, betritt Till Brönner doch noch die Bühne. Die Trompete an den Lippen umkreist er die acht Tänzer, reiht sich mittendrin ein zum Schlussbild am Bühnenrand. Dann bricht minutenlanger Beifall los, stehend und rufend drücken die Premierenbesucher im Bochumer Schauspielhaus ihre Begeisterung aus. „PULSE – Till Brönner meets Dance“ hat offensichtlich an diesem Freitagabend ihren Herzschlag getroffen!

Über eine Stunde lang bewegten sich begnadete Körper der Dance Company zu Musik, die unter die Haut ging. Choreographin Nicole Beutler hatte in das Klanggerüst von Brönner 15 Szenen „montiert“, in denen ihre Tänzer das Lebensgefühl einer Region in Bewegung brachten. „Die Musik von Till Brönner war ausschlaggebend“, erklärt Beutler. „Sie trägt soviel vom Puls des Ruhrgebietes in sich.“

Beiden war jedoch von Beginn der gemeinsamen Arbeit wichtig, keine Botschaften zu senden, sondern an Gefühle und eigenes Erleben zu appellieren. Die Verweise sind entsprechend sparsam, lassen den Zuschauern Raum für eigene Assoziationen. Im Bühnenhintergrund erscheinen ab und zu eingeblendet Schlagworte, Wegweiser und Orientierung im turbulenten Tanzgeschehen. „Erwachen“ oder „Teamwork“ unterstützen die Botschaft der Bewegungen. Die Kostüme erinnern gelegentlich an die Schutzkleidung der Stahlkocher, während die Tänzer scheinbar Mensch und Material gleichermaßen verkörpern.

„PULSE! ist der Puls der Menschen der Region, den durfte ich kennenlernen, als ich fast zwei Jahre lang für die Fotoausstellung Melting Pott fotografiert habe. Es ist eine Hommage ans Ruhrgebiet – und die hat es auch verdient.“

— Komponist Till Brönner

Alles dreht sich um pure Energie

„Es ist ein sehr energiegeladenes Stück“, erläutert Beutler das Auftragswerk der Brost-Stiftung. Alles dreht sich um Energie und Transformation, am Bühnenrand zeigt ein Monitor die Ladekapazität der Solarzellen an, die vor dem Theater aufgestellt sind. Die aktuelle Wirklichkeit in einer Region, deren Wohlstand auf fossilen Energieträgern basierte.
Gleichzeitig sollen die Tänzer mit ihrer Energie der Jugend die Zukunftsoptionen einer Region symbolisieren.

Beim Bild „Stahlkochen“ transformiert die Bewegungs- und Lebensenergie allmählich in Richtung Fußball, die tanzenden Malocher vereinen sich in kollektiver Ekstase. Und erzeugen offensichtlich das angestrebte Kopfkino bei den Zuschauern. Brönner: „Wenn jemand aus dem Publikum in diesem Moment laut ‚Borussia‘ reinruft, hat die Inszenierung doch perfekt funktioniert.“

„Die Arbeit an PULSE! war eine gemeinsame Reise aus der Komfortzone. Ich habe lange Gespräche mit engen Verwandten geführt, die im Bergbau gearbeitet haben, um herauszufinden, was das Leben der Menschen hier geprägt hat.“

— Choreographin Nicole Beutler

Zu den gelungenen Denkanstößen zählen auch die Verweise auf „KI“ in gleich drei Szenen. Eine englischsprachige Stimme aus dem Off deutet Vergangenheit, Jetzt und Zukunft der Region. „Future is bright“ sagt der scheinbar allwissende „Onkel Google“. Voraussetzung sei die optimistische Bereitschaft zur Veränderung: „Cherish each day in this melting pott“.

Beim Premierenpublikum ist die Botschaft erkennbar angekommen, die Mehrzahl der Zuschauer klatschte sich stehend eine Viertelstunde lang die Hände wund. Um dann angeregt plaudernd den Saal zu räumen. Brönner: „Die besten Kinofilme oder Theaterstücke sind doch die, bei denen sich die Leute auf dem Heimweg darüber streiten, was denn eigentlich die Botschaft des Abends sein sollte…“

Grußwort des Vorsitzenden des Vorstands der Brost-Stiftung, Prof. Bodo Hombach

"PULSE! Till Brönner meets Dance" Premiere im Schauspielhaus Bochum am 7. Juni 2024

Verehrte Erwartungsvolle und die Erwartung Bedienende,
wir sind im Hotspot der Kultur. Hier geht es um große Themen. Die verdichten sich im kleinen Ereignis eines Theaterabends. Mit großem Einsatz der Akteure. Wir Zuschauenden gehen am Ende größer, klüger und mutiger, als wir gekommen sind. Heute setzt es ein Experiment ohne Netz. „Pott“ und „Tanz“- das klingt wie ein Gegensatz – Irrtum!!!
In unserer Region wurde von Kurt Jooss bis Pina Bausch an der Weltgeschichte des Balletts mitgeschrieben. Als Kind assoziierte ich Ballett mit dem wunderbaren Kleist-Aufsatz über das „Marionettentheater“. Die Gliederpuppen hingen an Fäden. Sie mussten sich nicht selbst tragen. Das verband völlige Leichtigkeit mit naiver Grazie.
Irgendwann begriff ich: Tanz ist Maloche. Jeder Schritt ist Trotz und Auflehnung gegen die Schwerkraft! Jeder Sprung ein Ernstfall. Das kreiert den nachhaltigen Eindruck aus Bewegung und Musik. Eine besondere Zone der Wahrnehmung wird berührt. Die prägt sich ein. Prägende Partnerin dieses Projektes ist die Choreografin Nicole Beutler. Sie erweitert die Grenzen von Tanz, Theater und Bildender Kunst. Sie und ihr Ensemble geben der „Conditio humana“ die visuelle Sprache.
Wir haben ein Date mit dem Multitalent Till Brönner. Jazztrompeter der Weltspitze und begnadeter Fotograf. Um den „Puls“ des Potts zu verstehen, muss man feine Sinne haben. Es braucht Fähigkeit und Bereitschaft, tradierte Vorstellungen immer wieder an der Realität scheitern zu lassen. Geografie und Geschichte können das Geheimnis dieser Region nicht hinreichend beschreiben. Die hat ungewöhnlich durchlässige Ränder.

Die wirtschaftliche und kulturelle Dynamik der Ruhrregion saugt auf und strahlt aus. Sie ist Objekt im globalen Wandel. Von dem disponiert und befrachtet. Klischees scheitern an den hier lebenden Menschen. Die verkörpern das multiple Wesen ihres Lebensraums. Ihnen steht die Deutung zu. Dieses Recht nehmen sie auf entwaffnende Weise in Anspruch. „PULSE“ heißt Brönners Werk. Till Brönner ist dazu besonders legitimiert.
2018 hat er sich von unserer Stiftung verführen lassen, zwei Jahre lang Symptomatisches der Region und seiner Menschen zu dokumentieren. Er gab der Verbundenheit der Region mit sich selbst Bilder. Die gastieren gerade im Ludwig Museum Budapest. Natürlich spielt Till Brönners Trompete und die Kunst der Bochumer Symphoniker heute eine zentrale Rolle. Ich staune schon lebenslänglich, wie sich „heiße Luft“ in die Seele eines Künstlers verwandelt. Und ihren Weg durch seltsam verschlungene Rohre, Ventile und die Vibrationen der Umgebungsluft in unser aller Seele findet. Das und die Tanzperformance brauchen stabilen Boden. Den hat die Brost-Stiftung gerne eingezogen.
Immer stand Johan Simons mit künstlerischem Rat bereit. Ein inspirierendes Joint venture also: Ein Geschenk an die Menschen der Region. Johan Simons öffnete dieses wunderbare Haus. Der Theaterdirektor im Faust sagt: „Dieweil ihr Komplimente drechselt, kann etwas Nützliches geschehn.“ Ich bin neugierig und danke!!