Reflexionen eines Metropolenschreibers im Juni

Eine Beitragsreihe aus dem Herzen des Ruhrgebiets
Der Kanarienvogel der Hypernormalisierung:
Im Ruhrgebiet kann es manchmal sehr schwierig sein, den Schein einer alltäglichen Normalität zu wahren. Vielleicht sagt das mehr über uns aus, als wir wahrhaben wollen.
Neulich stand ich an einer Bushaltestelle in Mülheim und wartete geduldig etwas über eine halbe Stunde auf den Bus, der mich nach Oberhausen bringen sollte, wo ich mit einer Freundin einen Kaffee trinken wollte, die später am Abend im dortigen Literaturhaus las. Dabei hatte alles gut angefangen. Ich hatte freudig festgestellt, dass ich nur zwei Busse brauchen würde, um ins Oberhausender Stadtzentrum zu gelangen, und der erste Bus war pünktlich gekommen. Ich war nicht die einzige Person, die mit großer Gleichmut erst fünf, dann zehn, dann zwanzig, dann dreißig Minuten wartete. Wir waren zu fünft, glaube ich, scrollten auf unseren Handys, schauten in die Ferne und stießen ab und an einen wortlosen Seufzer aus. Uns war allen klar, dass der eigentliche Bus ausgefallen war und wir schlicht auf den nächsten würden warten müssen. Wenn es einen Moment gibt, in dem man begreift, im Ruhrgebiet angekommen zu sein, dachte ich, dann ist es dieser.
Zu Beginn meines Aufenthalts hatten mich diese Situationen häufig etwas wütend gemacht, nicht nur der verpassten Züge und Theaterabende wegen, die sie nach sich zogen, nicht nur aufgrund des unangenehmen Gefühls, dass sich keine Verabredung, kein Museumsbesuch wirklich planen ließ. Sondern auch, weil alle Beteiligten diesen Umstand mit großer Selbstverständlichkeit geradezu stoisch hinnahmen. Niemand scheint sich mehr über die Dysfunktionalität des öffentlichen Nahverkehrs zu ärgern. Auch über die Überlastung des Autobahn- und Straßennetzes, das für eine ähnliche Planungsunsicherheit sorgt, wenn man Auto fährt, regt sich kaum jemand richtig auf. Es ist verschwendete Energie, man kann ohnehin nichts daran ändern. Nun war ich selbst zu einem der Menschen geworden, die das empfanden.
Ich erwähne diesen Umstand an dieser Stelle zum einen, weil ich glaube, dass sich an dieser grauenhaften Situation etwas ändern sollte. Das flächendeckende politische Versagen, das sich darin zeigt, ist erschreckend. Es scheint sowohl auf einer Verachtung für jene Menschen in Armut zu beruhen, dass sie darauf angewiesen sind, mit Bus und Bahn zur Arbeit zu kommen, als auch auf einer Verachtung für alle Menschen der Mittelschichten, die ihr Auto nutzen, um zur Arbeit zu fahren. Mit anderen Worten für alle Menschen, die arbeiten müssen, statt von ihrem Vermögen zu leben.
Zum anderen schreibe ich darüber, weil diese Situation, glaube ich, beispielhaft für etwas Größeres steht, was unseren Alltag im ganzen Land bestimmt. In seinem Buch „Everything Was Forever, Until It Was No More“ erzählt der russisch-amerikanische Anthropologe Alexei Yurchak vom Alltagsleben in den letzten beiden Jahrzehnten der Sowjetunion. Dieses sei von einem grundlegenden Paradox bestimmt gewesen, schreibt
er: Es habe sich trostlos angefühlt, so als sei es im Verfall begriffen, und sei dennoch lebendig und voller Versprechen gewesen. Als das Systems des Staates zusammenbrach, sei man auf der einen Seite völlig überrascht gewesen, weil man dachte, es würde auf ewig so weitergehen. Auf der anderen Seite hatte man darauf gewartet, da nur der Kollaps die logische Folge eines Systems sein konnte, das für die große Mehrheit der Menschen nicht mehr funktionierte. Dieses paradoxe Alltagsgefühl bezeichnete Yurchak als „Hypernormalisierung“. Gemeinsam hielt man den Schein einer funktionierenden Gesellschaft aufrecht, weil es keine Alternative zu geben schien. Auch wenn alle wussten, dass es sich dabei weitgehend um Selbsttäuschung handelte, glaubte man daran und hielt diese Täuschung für Wirklichkeit. Seit einigen Jahren macht in einigen intellektuellen Zirkeln die Frage die Runde, ob sich unser heutiges Alltagsleben nicht durch eine ähnliche Hypernormalisierung auszeichne. Auch unser neoliberales Wirtschaftssystem scheint in seinen letzten Zügen zu liegen und nur noch für sehr wenige Menschen wirklich zu funktionieren, während die Mehrheit der Menschen mit real sinkenden Lebensstandards konfrontiert ist, angesichts steigender Lebensmittelpreise ins Schlucken kommt, vergeblich auf wichtige Arzttermine wartet, jeden Tag im Stau steht oder eben auf stoisch auf einen nicht kommenden Bus wartet. Den Schein der Normalität aufrechtzuerhalten, wird zu einer immer größeren Herausforderung.
Vielleicht neigt man immer dazu, das Leben in der Region, in der man lebt, als beispielhaft für das Leben des ganzen Landes zu halten. Mein Lebensmittelpunkt liegt immer noch in Berlin und für meine Arbeit muss ich viel durch das Land reisen. Immer wenn ich in meiner Wohnung in Neukölln oder auf Lesereise bin, wird mir bewusst, dass das politische Versagen, das sich im Ruhrgebiet zeigt, in anderen Regionen des Landes weniger ausgeprägt ist oder zumindest nicht so extrem ins Auge fällt wie hier, auch wenn es überall immer wieder greifbar wird. Dennoch habe ich den Eindruck, dass das Leben hier etwas Beispielhaftes hat, dass es immer auch ein wenig exemplarisch ist, wenn wir wieder mal auf einen Bus warten, der schlicht nicht kommt, oder zum dritten Mal in der Woche im Stau auf einer überlasteten Autobahn stehen und uns nicht darüber ärgern, um weiter den Schein der Normalität wahren zu können. Vielleicht könnte das Ruhrgebiet für das Land so etwas wie einer jener Kanarienvögel darstellen, die man im Bergbau früher mit unter Tage nahm, um vor Bösen Wettern zu warnen. Wenn die Vögel aufhörten zu singen und träge wurden, zeigte das bekanntlich an, dass die Luft eine lebensgefährliche Konzentration an Kohlenmonoxid enthielt. Man konnte sich rechtzeitig in Sicherheit bringen und die Grube verlassen. Wenn das Ruhrgebiet der Kanarienvogel für das hypernormalisierte Alltagsleben dieser Tage ist, hat dieser Vogel weitgehend aufgehört zu singen. Wir können auf seine Warnung hören oder auch nicht.