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Das neue K des Reviers

Ein Beitrag unserer Metropolenschreiberin Ruhr Nora Bossong

Erst spät, und zugegen, auch nur durch den freundlichen Hinweis eines Bekannten fiel mir auf, dass Essen nicht mehr die Einkaufsstadt ist, zumindest vom Bahnhof aus nicht mehr. Vom Bahnhof aus war das Einkaufen nicht etwa nur deshalb so sehr das Wahrzeichen Essens wie der Dom das Wahrzeichen Kölns ist, weil man direkt in die Fußgängerzone schaut, sondern vor allem, weil eine großlettrige Schrift am Handelshof es behauptet. Ich habe sie in meinem Leben so oft gelesen, dass es mir offensichtlich müssig erschien, so auch nur ein einziges Mal erneut zur Kenntnis zu nehmen. So bemerkte ich nicht, dass dort an der Fassade vis à vis des Bahnhofs die Lettern wechselten und Essen mittlerweile die Folkwangstadt ist.

Was hat es damit auf sich? Möglich, dass im Ruhrgebiet wieder einmal deutlicher als anderswo ein Enden und Ableben zu sehen ist, das in der gesamten Republik geschieht. Denn tatsächlich sterben im Ruhrgebiet nicht nur die Zechen. Gleich zu Beginn meines Aufenthalts stand ich vor einer Kirche in einem halbwegs belebten Viertel, dessen Schautafel nur noch verkündete, über welche Gottesdienstzeiten die benachbarte Gemeinde verfüge. Auch fielen mir die leeren Fenster in der Mülheimer Einkaufsstraße auf, ein Anblick, der sich an der einen und anderen Ecken in Essen, Gelsenkirchen und Castrop-Rauxel wiederholt. Mit den drei Ks des Ruhrgebiets – Kohle, Kirche, Karstadt – scheint es vorbei zu sein.

Aber ist das neue K, die Kunst, tatsächlich das, was das Ruhrgebiet von nun an trägt? Zwar ist mir persönlich die Kunst deutlich näher als Kohle und rolltreppengeleiteter Warenkonsum. Dennoch zögere sogar ich, diesem neuen Schriftzug so ohne weiteres Glauben zu schenken. Auch der Name Folkwang – zwar laut Oberbürgermeister Kufen „für Kunst, die allen Menschen zugänglich sein will“ und im Altnordischen das Volksfeld, offen für alle – steht doch im modernen Hochdeutsch eher für Hochkultur und für ein Museum im Essener Süden, das hundertjähriges Jubiläum feiert. So klingt nicht einmal die gesamte Kultur mir, sondern die europäische Hochkultur und mit ihm geht der Blick auf das im Süden der Ruhrstädte angesiedelte gutsituierte Bürgertum, das eher das Gegenteil ist von den Kohlekumpeln und Trinkhallenbesuchern der Zechensiedlungen und dem Malocher-Melting-Pott, von all dem, was bisher das Ruhrgebiet so stark charakterisierte.

Nun ist eine Neuformulierung des schon zum Klischee gewordenen Ruhrpott-Charakters ja durchaus erfrischend, und die Kunst ist seit Langem wesentlicher Bestandteil der Region, mit bedeutenden Theatern, Museen und all den Subformen, die in die Brachen absterbender Industrie hineinwuchsen. Aber so wenig, wie der Mensch von Brot allein lebt, so wenig wärmt er sich allein an schönen Ölfarben hinter Glas. Beides, Brot und Kunst, brauchen wir, doch eben, allein genügen sie nicht. Industrie und Handel sind nicht mit Kunst auswechselbar, sie sind etwas fundamental anderes. Zudem lässt sich bei aller Konsumkritik schwer leugnen, dass Einkaufsstraßen auch Begegnungsräume sind und waren, milieuübergreifender als ein Theaterfoyer oder ein subkultureller Kieztreff es sein könnten. Und mit den Zechen ging nicht allein eine spezifische Form der Arbeit verloren, die fraglos hart und oft bitter war, Menschen zerschlissen hat und viele Lebensjahre in ihre dunklen Rachen zu früh verschlungen hat, sondern auch für Generationen von Bergarbeitern und ihre Familien ein Bezugspunkt, etwas, das ökonomische Sicherheit versprach, aber auch eine Form des Stolzes, den man sich daraus formte. Und dass man sprichwörtlich gerade die Kirche im Dorf lassen soll, meint nicht nur, dass wir eine gute Verbindung zwischen Himmel und Erde brauchen – wenn gerade auch das Bistum Essen von einem Missbrauchsskandal eingeholt wird, der ausgerechnet den Gründervater betrifft.

Die Kirche im Dorf zu lassen meint aber eben auch, dass wir Bezugs- und Begegnungspunkte brauchen, jenen belebten Stadtkern, der über Jahrhunderte von einem Kirchenbau markiert war. Wir brauchen es auch in den modernen Dörfern, die heute Stadtteile, Schlafburgen, Satellitenstädte sind. Schön, wenn auch Orte der Kunst diese Rolle übernehmen. Als ein K unter mehreren, eine Säule unter vielen. Allein aber würden sie sich mit zu viel Tragfläche wohl überheben. Es ist aber ohnehin nur das Logo für ein Jahr. Beim hundertersten Jubiläum wird am Handelshof wohl nichts mehr von Folkwang zu lesen sein. Ob man allerdings auf die Einkaufsstadt zurückkommt, dürfte mit Blick in die Kettwiger Einkaufsstraße aber doch mehr als fraglich bleiben.