Plädoyer für eine neue Freiheit
In ihrer Antrittslesung verdeutlichte Metropolenschreiberin Eva von Redecker auf unterhaltsame Weise die Relevanz ökonomischer Prozesse für künftiges menschliches Miteinander
Wieviel Ruhrgebiet kann ein Besucher in weniger als drei Tagen aufnehmen? Eva von Redecker (41), eigentlich wohnhaft in Brandenburg, fasste ihre Eindrücke zu Beginn der Antrittslesung so zusammen: „Ich bin hier noch nie in meinem Leben gewesen und es ist kalt wie in Sibirien.“ Als neue „Metropolenschreiberin Ruhr“ zog die Philosophin gerade in Mülheim an der Ruhr ein und will sich auf Einladung der Brost-Stiftung in den nächsten neun Monaten „ihr“ Bild der Region und der hier lebenden Menschen machen. Den zahlreichen Zuhörern im früheren Wohnzimmer von Stifterin Anneliese Brost wurde im Laufe des kurzweiligen Abends schnell klar: Die streitbare Autorin schaut sehr genau hin…
„Mir ist aufgefallen, dass es hier in der Region viel Grün gibt, aber wenig Wildnis“, erzählt sie von ersten Spaziergängen an der Ruhr. Aufgewachsen auf einem Bauernhof „in Einzellage“ in Schleswig-Holstein sei ihr bewusst, dass es um uns herum kaum bloße Natur gebe, sondern Menschen durchweg Hand anlegten. „Nur in einer Baulücke fiel mir wildwachsendes Brombeergestrüpp auf, so wie es daheim in Brandenburg an jeder Ecke zu finden ist.“ Ein weiterer Unterschied zur heimischen Idylle: viele Leute ringsum. „Brandenburg ist die nahezu am dünnsten besiedelte Region Deutschlands, hier im Ruhrgebiet begegnet man ständig anderen Menschen“, so von Redecker. Die jedoch überraschend freundlich grüßten.
Freiheit geht nur gemeinsam
Für die Erkundung der „Kulturlandschaft Ruhrgebiet“ hat der bekennende „Landmensch“, bekannt für Schriften über Eigentum, sozialen Wandel und ökologische Herausforderungen, einen sehr praktischen Plan gefasst. „In der Garage des Mülheimer Hauses habe ich einen großen Pappkarton gefunden. Vielleicht bastle ich daraus eine Karte des Ruhrgebiets und markiere dort jeden Ort, den ich besucht habe.“ Sie habe über direkte Eindrücke schon immer viel mehr gelernt als in der Bibliothek und sei unglaublich gespannt, „im Revier neue Worte und eine temporäre Heimat zu finden.“
Im Gespräch mit Dr. Andreas Friedolin Lingg, Wirtschaftsphilosoph und -historiker an der Universität Witten/Herdecke las Eva von Redecker aus ihrem Essayband „Bleibefreiheit“ (S.Fischer 2023) vor, der sich mit einer neuen Interpretation des Begriffspaares beschäftigt. „Anders als bei der Bewegungsfreiheit ist der Anfangspunkt der Bleibefreiheit damit auch der Endpunkt der Unfreiheit“, schreibt sie. „Denn bloße Bewegungsfreiheit hat den Haken, dass sie die Unfreiheit bestehen lässt. Man ist dann nur selbst woanders…“
„Können wir auf diesem Planeten leben, ohne in ständigem Terror nur mühsam seinen Katastrophen entgegenzuarbeiten, können wir hier so bleiben, dass wir auch frei bleiben, dass wir Zeit im Überfluss genießen, dass wir hinaufschauen können in einen Himmel, in dem die Schwalben tanzen?"
Eva von Redecker im Klappentext ihres Buches „Bleibefreiheit“
Um sich der gesellschaftlichen Utopie der „Bleibefreiheit“ anzunähern, bedürfe es nicht nur einer Klärung von Begrifflichkeiten, in der deren Mittelpunkt immer wieder die „Zeit“ erscheint. Künftig lebbare Freiheit rückt die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen in den Blick. „Wir müssen das gesamte System unseres Miteinanders demokratischer organisieren“, fordert die neue Metropolenschreiberin Ruhr. Nur als solidarische Kraftanstrengung könne es gelingen, den Ressourcenverbrauch zu verlangsamen. Am Beispiel der Kohle lasse sich dies besonders eindrucksvoll festmachen: Was über Jahrmillionen entstanden sei, werde aktuell von einer Generation Menschen aufgezehrt. Und damit nicht nur im Hinblick auf das Weltklima das Leben künftiger Generationen gefährdet. Eva von Redecker: „Die kapitalistische Wirtschaft verbraucht jetzt schon die Zeit der Zukunft. Wir müssen die Schulden bei künftigen Generationen mit Zeit ausgleichen.“
Generation von „Kohlejunkies“
Als Expertin für Kapitalismuskritik verdeutlichte sie im Diskurs mit Lingg aktuelle Fehlentwicklungen beispielsweise im Verbrauch fossiler Energien, den die Philosophin mit dem Verhalten von Suchtkranken vergleicht. „In einer Generation von Kohlejunkies sind nur die nicht mehr „auf Kohle“, die früher unmittelbar mit dem Stoff zu tun hatten: die Bergleute. Ansonsten wird weltweit weiter Energie durch Verbrennen von Kohle und Öl gewonnen.“ Die Menschen lernten nicht wirklich dazu, obwohl die Evolution sie dazu durchaus befähigt habe. Im Gegensatz zu einem Lachs beispielsweise, der einem vorgegebenen Lebenszyklus folge, besäßen wir sehr wohl die „Freiheit, Neues zu gestalten“.
Eva von Redecker gelang es nicht nur an diesem Abend im Wohnzimmer von Anneliese Brost ihre Themen Eigentum, Investitionsströme, Fossilenergie und Arbeitskraft über Beispiele aus dem erlebten Alltag der Zuhörer greifbar zu machen. Gesellschaftliche Herausforderungen gespiegelt in der Kommunikation des Waldbodens, in Irrwegen bei der Subvention für Mais als Ökokraftstoff oder belebt von Zitaten aus den Lebensregeln ihres Vaters sorgten für gute Unterhaltung und machen neugierig auf die Erkenntnisse der neue Metropolenschreiberin. Um es mit den Worten von Professor Bodo Hombach, Vorstandsvorsitzender der Brost-Stiftung, zu sagen: „Es ist eine wiederkehrende Freude, zum neunten Mal die verlockende Chance, uns und unsere Region besser zu verstehen…“