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Nothilfe und Selbsthilfe

Die Menschen im Ruhrgebiet stehen in Corona-Zeiten solidarisch zusammen. Diakonie-Pfarrer Christenn erklärt im Interview, was die Erfolgsgeschichte von „Wir im Revier“ ausmacht.


Kein Ende in Sicht!? Der Kampf gegen das Corona-Virus wird das Leben in den nächsten Monaten weiter hart einschränken. Trotz vielfältiger staatlicher Hilfen wird die Zahl der Menschen steigen, die an den Rand der Existenz geraten. Aber es gibt auch Zahlen, die Hoffnung und Kraft vermitteln: Die Hilfsinitiative "Wir im Revier" half 850 Menschen aus dem Ruhrgebiet, die durch Corona in Not geraten sind – mit bislang mehr als 725.000 Euro, großzügig bereitgestellt von Unternehmen und Stiftungen wie der Brost-Stiftung. Mehr als 2.000 Briefe, die bei den Mitarbeitern der Initiative eingingen, belegen Not und Verzweiflung in der direkten Nachbarschaft, quer durch alle Berufs- und Bevölkerungsgruppen. Musiker ohne Auftritte suchen ebenso Hilfe wie alleinerziehende Mütter, Soloselbstständige oder Studenten. Geholfen wurde nicht nur einem Wanderzirkus sondern auch Sex-Arbeiterinnen ohne Einnahmen.
Nun komme ich endlich dazu, mich bei Ihnen und dem Team vom Diakonischen Werk Dortmund und Lünen zu bedanken!! Die 1.000 Euro waren erstmal eine riesige Hilfe für mich und ein Stück weit Erleichterung in dieser schweren Zeit. Anders als beim Staat bekam ich von Ihnen schnelle und unbürokratische Hilfe. Das hat mir gezeigt, wie nahe Sie wirklich an den Menschen sind... Ganz, ganz herzlichen Dank!!!Mail eines Hilfsempfängers
Sozialarbeiterinnen von Caritas und Diakonie prüfen jedes einzelne Schicksal, sammeln Kündigungsschreiben, Kontoauszüge, vergebliche Bewerbungen. Wenn alles stimmig ist, wird eine Förderung veranlasst – dann gibt es bis zu 1.000 Euro oder einen Mediengutschein: Weit mehr als 200 Familien konnte geholfen werden, deren Schulkinder im Lockdown oder Quarantäne vom Unterricht quasi ausgeschlossen sind.

Pfarrer Ulrich T. Christenn von der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe ist verantwortlich für die reibungslose Abwicklung vom Antrag bis zur Auszahlung der Hilfsgelder. Im Interview spricht er über Solidarität und Dankbarkeit, aber auch über Lücken im Sozialsystem, durch die immer noch viele Menschen abstürzen können.

1.000 Euro erscheinen auf den ersten Blick wie der vielzitierte Tropfen auf den heißen Stein…?
Christenn:
„Aus der Perspektive eines Menschen mit einem regelmäßigen und guten Einkommen stimmt das. Aber für einen Hartz-IV-Aufstocker oder Studenten, dem plötzlich alle Nebenjobs wegbrechen, ist es oft die einzige Nothilfe für einen begrenzten Zeitraum. Es kommen aber noch zwei weitere wichtige Faktoren in der Arbeit von „Wir im Revier“ dazu. Im Netzwerk der Diakonie bieten wir erstens über die Finanzhilfen hinaus Schuldnerberatungen, Unterstützung in Erziehungsfragen oder auch psychologische Hilfestellung an. Zweitens ist für die Betroffenen die Erfahrung ungeheuer wichtig, dass sie nicht allein gelassen werden.“

Wie hat sich die Situation im Laufe der Pandemie verändert?
Christenn:
„Zu Beginn im Frühjahr 2020 gab es überraschend wenige Hilfsgesuche, einige haben sogar ihre Bitte um Unterstützung wieder zurückgezogen. Soloselbstständige waren noch zuversichtlich, ihre finanzielle Situation wieder in den Griff zu bekommen. Diese Hoffnung ist vielfach geschwunden, die Bedürftigkeit wächst. Gleichzeitig geht aber auch das Spendenaufkommen zurück, umso wichtiger sind die verbleibenden treuen Partner. Rund 1,5 Millionen Euro stehen uns insgesamt für die Initiative zur Verfügung. Wir konnten damit unter anderem Großfamilien mit bis zu 2.500 Euro im Einzelfall unterstützen.“

Sie beobachten dabei auch, dass der Sozialstaat vielfach an die Grenzen geraten ist?
Christenn:
„Bei der Größe und Komplexität unserer Gesellschaft kann der Staat nicht die ganze Last tragen, es braucht auch in einem funktionierenden Sozialstaat zur Unterstützung flexible zivilgesellschaftliche Organisationen. Wir haben erlebt, wie gewaltige Programme aufgelegt worden sind, die aber nicht mehr jeden Bürger erreichten. Auch ein dichtes Netz staatlicher Hilfen hat seine Lücken und Menschen fallen hindurch. Neben den Finanzhilfen haben wir ein weiteres Modell der Hilfe entwickelt. Wir können in einer Kooperation mit dem Computerhersteller Medion IT-Gutscheine an bedürftige Familien abgeben. Finanzielle Unterstützung würde Hartz-IV-Empfängern nicht wirklich helfen, weil diese wieder mit den staatlichen Zahlungen verrechnet wird. Statt die Familien mit Sachspenden zu bevormunden, dürfen sie selbst die für sie passenden Geräte im Rahmen bestimmter Vorgaben aussuchen, sie sind hier auf Augenhöhe eingebunden. So können wir Kinder mit der nötigen Technik fürs Homeschooling ausstatten. Wir halten das für ein Zukunftsmodell des Umgangs in würdiger Art und Weise.“

Zu diesem Selbstverständnis gehört auch Hilfe zur Selbsthilfe.
Christenn:
„Für Diakonie und Caritas ist das ein entscheidender Hilfeansatz. Wir schauen nach den Ressourcen der Menschen und stärken sie darin. Aktuell z.B. in der Schuldnerberatung für Soloselbstständige oder psychologische Beratung für Familien, weil deren Situation seit dem ersten Lockdown, statistisch belegt, schwieriger geworden ist. Die Hilfsaktion „Wir im Revier“ wirkt ergänzend als konkrete Nothilfe: Die finanzielle Unterstützung ist oft der berühmte Strohhalm, um sich vor dem Untergang zu retten. Manche Antragsteller haben die Kreditkarte bis zum Anschlag überzogen, es gibt längst kein Geld mehr auf dem überzogenen Konto. Da halfen 1.000 Euro, um zu überleben.“

Entsprechend groß ist die Dankbarkeit…
Christenn:
„Manchmal bin ich darüber regelrecht beschämt, wie sich die Menschen zum Beispiel in Mails bedanken. Für viele ist es das erste Mal, dass sie Solidarität aus der Gesellschaft erfahren. Und sie müssen dafür ja ihre finanzielle Situation vollständig offenlegen, vom Kontoauszug bis zur Ablehnung der Firma, bei der sie sich um einen Job beworben haben.“

Für den zweiten Lockdown ist kein Ende abzusehen, niemand kann heute sagen, wann in der Gastronomie wieder Kellner, am Flughafen Gepäckträger, auf Messen Hostessen und in Stadien Bierverkäufer gebraucht werden. Wann Musiker wieder musizieren, wann Dozenten wieder dozieren können, wann die Kurzarbeit endlich aufhört.
Wir haben uns einen richtig tollen Laptop für den erhaltenen Gutschein ausgesucht. Vielen lieben herzlichen Dank für diese gegebene Möglichkeit. Wir haben uns sehr darüber gefreut und werden ihn sehr gut pflegen, damit er uns hoffentlich lange erhalten bleibt. Nochmals lieben Dank und besinnliche, schöne Weihnachtstage und einen guten Rutsch ins neue Jahr wünschen wir Ihnen.“ Dankschreiben einer Familie
Sie brauchen selbst Hilfe, weil das Geld knapp wird? Sie kennen jemanden, dem es so geht? Dann schlagen Sie sich oder andere vor! Das geht über die Internetseite Wir-im-Revier.de direkt, Sie finden dort aber auch ein Formular, welches Sie per Post verschicken können. Caritas und Diakonie prüfen die Anträge und übernehmen die Auszahlung von bis zu 1.000 Euro, in Ausnahmefällen auch mehr. "Wir im Revier" wurde von der Funke Medien NRW gemeinsam mit der Business Metropole Ruhr ins Leben gerufen, unterstützt wird die Aktion von den Sozialverbänden Diakonie und Caritas. Geldgeber sind die RAG-Stiftung, Vivawest, die Brost-Stiftung, die Stiftung Mercator, Vonovia u.a.