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Was verbindet Venedig mit dem Ruhrgebiet?

Was verbindet Venedig mit dem Ruhrgebiet?

Vier „Metropolenschreiber“ gaben auf der lit.Ruhr nicht nur bei dieser Frage spannende Denkanstöße

Auf den ersten Blick liegen Welten zwischen beiden Arbeitsplätzen: Sein aktuelles Buch „Die Zeit der Verluste“ schrieb Daniel Schreiber in Venedig, meist mit Postkartenblick auf den Canale Grande. Seit Anfang des Monats recherchiert er auf Einladung der Brost-Stiftung im Herzen des Reviers als „Metropolenschreiber Ruhr“ für das nächste Werk.
Beide Standorte vereint jedoch trotz unterschiedlichster Assoziationen in unseren Köpfen eine zentrale Überlebensfrage. Ohne technische Unterstützung im Wassermanagement würden Venedig und der Pott gnadenlos untergehen! Um es mit den Worten der Philosophin Eva von Redecker zu formulieren: „Ohne die gewaltige Pumpleistung der Emscher-Genossenschaft gliche das Ruhrgebiet sehr schnell der Mecklenburgischen Seenplatte.“ Menschliche Leistung mache hier wie dort eine künstlich geschaffene Gegend dauerhaft bewohnbar.

Beim „Klassentreffen“ der Metropolenschreiber anlässlich der lit.Ruhr offenbarte die Diskussion zwischen Schreiber und seinen VorgängerInnen von Redecker, Nora Bossong sowie Ingo Schulze vom Start weg die wegweisende Sinnhaftigkeit des 2017 gestarteten Projektes. Der Blick von außen eröffnet, verbunden mit dem Blick in die Welt durch die Augen der Autoren, unerwartete Perspektiven für die Ruhrregion.

„Für mich kennzeichnet eine Idee vom Miteinander das Ruhrgebiet. Es gibt hier so viele unterschiedliche Milieus, queere Communities, eine einzigartige Kunstszene, Großbürgertum sowie ein Arbeitermilieu. Der Frage des „Miteinanders“ möchte ich nachgehen.“

— Daniel Schreiber, Metropolenschreiber 2024/25

Während Schreiber in Mülheim gerade mit dem Auspacken der Umzugskartons beginnt, analysiert und strukturiert Eva von Redecker bereits die Erlebnisse. Entstehen soll „ein Epos über Kohle“, in Versform, begleitet von Essays über das Ruhrgebiet, gespiegelt in ihren Kernthemen Eigentum, sozialer Wandel oder Feminismus. „Nach dem Ausstieg aus der Kohle wird hier viel über die Energie der Zukunft nachgedacht. Dabei stellt sich die Frage: Welches sind tatsächlich die neuen Energieträger? Und werden wir jemals soviel regenerative Energie erzeugen, um den Tanz auf dem Vulkan ohne Reue fortsetzen zu können?“

„Für mich war die Begegnung mit dem Ruhrgebiet eine Erschütterung. Es war so, als würde man beim Frühstück statt auf Knäckebrot plötzlich auf Glas beißen.“

— Eva von Redecker, Metropolenschreiberin 2024

Metropolenschreiberin Nora Bossong will mit dem Theaterstück „Grabeland“ (Premiere am 31. Oktober in Oberhausen) die Zuschauer an ihrer Auseinandersetzung mit dem Ruhrgebiet teilhaben lassen. „Die Form des Theaterstückes lag auf der Hand in einer Region, die so reich an Theatern ist“, so Bossong. Am Beispiel von Kohlekumpels, die während der Nazizeit mittels Seidenraupenzucht zu Wohlstand kommen wollen, zeigt sie die Verletzbarkeit von Demokratie und Moral auf.

„Im Ruhrgebiet sieht man Probleme, Chancen oder Schwierigkeiten wie unter einem Brennglas. Ich bin pessimistischer abgereist als ich angekommen bin.“

— Nora Bossong, Metropolenschreiberin 2023

In mehrfacher Hinsicht ist Ingo Schulze bei der „Tiefenbohrung“ am weitesten in das Innere des Ruhrgebietes und seiner Menschen vorgedrungen. Sein Essayband „Zu Gast im Westen – Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“ verknüpft die Erlebnisse als Metropolenschreiber mit den Lebenserfahrungen des gebürtigen Dresdners. Die von ihm vorgelesenen Gedanken zum Wandel des Männerbildes in Ost und Pott eröffneten den Zuhörern im Salzlager der Kokerei auf Zeche Zollverein eine selten genutzte Facette in der Selbstbespiegelung: Nicht nur im Ruhrgebiet kämpfen die Menschen mit Wandel und Verlust an Gewissheiten.

Schulze: „Es ist endlich Zeit für eine ehrliche Bestandsaufnahme. 1990 brach im Osten alles zusammen!“ Und zwar explosionsartig: Gab es 1989 beispielsweise noch 160.000 Kumpels im Bergbau Ost, waren es sechs Jahre später nur noch knapp ein Fünftel. Zum Vergleich: Zwischen dem Höchststand der Beschäftigung 1955 (478.000 Kumpels) und dem Ende des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet (2018) vergingen immerhin 63 Jahre.

„Auf die Frage, ob ich einen Vergleich der Männlichkeit in Ost und West beschreiben könne, wurde mir klar, dass – wenn man Unterschiede finden will – diese an sozialen und nicht an regionalen Aspekten festgemacht werden müssen. Allgemein sehe ich, dass es eine Abwertung der körperlichen Arbeit gibt. Im Ruhrgebiet hingegen, wird das Ideal des ‚Malochers‘ hochgehalten – wenn auch nur nachträglich.“

— Ingo Schulze, Metropolenschreiber 2022/23

Fotos: litRUHR/Anna Spindelndreier