Wie wir zusammen leben

Wie wir zusammen leben
Der erste Beitrag unseres neuen Metropolenschreibers: Daniel Schreiber
Ich freue mich schon sehr auf das Jahr als Metropolenschreiber im Ruhrgebiet. Zunächst einmal, das muss ich zugeben, aus einem eher egoistischen Grund. Ich habe das Gefühl, mich in einer Phase der Neuausrichtung in meinem Leben zu befinden. Einer Phase, in der einem Orte helfen, die man noch nicht kennt. Und in der es letztlich nur hilft, sich selbst die Zeit zu schenken, die man nicht glaubt zu haben – die Zeit, offen für andere als die gewohnten Wahrnehmungen zu sein, neue Erfahrungen zu machen, andere gedankliche Wege zu gehen als sonst und vielleicht sogar sich selbst neu kennenzulernen. Das Jahr in Mülheim und dem Rest des Metropolen-Gebiets scheint mir da genau richtig zu kommen.
Letztlich kann man natürlich nie vorhersagen, ob so eine Neuausrichtung auch wirklich klappt, egal wie sehr man sie sich wünscht, egal, wie nötig sie ist. Und vielleicht könnte man denken, so eine Phase ginge mit einer größeren literarischen Produktivität einher, wenn sie, sagen wir, in Florenz, Paris oder Lissabon stattfände. Aber vielleicht eben auch nicht. Das Ruhrgebiet hat mich schon immer fasziniert. Kaum eine andere Region des Landes vereint so viele Gegensätze: landschaftliche und architektonische Schönheit gehen hier Hand in Hand mit Brüchen, die man gemeinhin als hässlich bezeichnen würde. Industriegeschichte ist hier nicht von einigen der größten Kunstsammlungen und Museen des Landes zu trennen. Eine lange, hochinteressante Zechengeschichte steht einer ebenso interessanten, epischen Literatur-, Tanz- und Theaterkultur gegenüber.
Und inmitten all dieser Gegensätze leben die Menschen der Region - Menschen aus so vielen verschiedenen Milieus und Schichten, Menschen mit so unterschiedlichen Herkünften, Lebensauffassungen und Interessen. Eine lange Arbeiter*innen-Kultur existiert hier gleichberechtigt mit der Schicht einiger der reichsten Menschen Deutschlands. Eine migrantisierte Kultur mit Wurzeln aus allen Ecken der Welt mit allen möglichen anderen klein- und großbürgerlichen Milieus. Verschiedene Konservatismen mit einer langen queere Geschichte. Und all diese Menschen leben hier zusammen, finden Möglichkeiten, ihren Alltag zu teilen, und über alle möglichen Differenzen hinweg miteinander zu kommunizieren. Wie ist das möglich?
Mein Arbeitsprojekt für dieses Jahr im Ruhrgebiet und meine erhoffte innerliche Neuausrichtung wird sich daher um die verschiedenen Politiken des Zusammenlebens drehen, die sich hier finden lassen. Ich werde diesen Politiken in Interviews, Texten und der Kuration einer öffentlichen Gesprächsreihe nachgehen, in der - ohne zu viel zu verraten - einige hochfaszinierende Menschen mit den unterschiedlichsten Backgrounds zu Wort kommen werden. Wir alle können von ihnen und der Region, mit der sie verwurzelt sind, lernen. Wenn nicht in Zeiten wie diesen. Wenn nicht jetzt.
„Das Konzept der wechselnden Metropolenschreiber hat unsere Sicht auf die Ruhrregion geweitet und intensiviert. Dass Herr Daniel Schreiber für ein Jahr auf Frau Eva von Redecker folgt, ist erneut eine Chance, durch einen anderen Blick auf scheinbar Bekanntes, Neues zu erkennen. Herr Daniel Schreiber ist weltläufig und welterfahren und gleichzeitig nachlesbar realitätsverhaftet. Sein bisheriges Werk ist eine hochsensible intellektuelle Symbiose individueller Beobachtungen und gesellschaftlicher Zusammenhänge. Die Brost-Stiftung und ich freuen uns auf den neuen Metropolenschreiber.“
— Prof. Bodo Hombach
Foto: Daniel Schreiber 2021 | Copyright: Christian Werner