Alltag zwischen Dinosauriern
Eva von Redecker zieht Bilanz als Metropolenschreiberin. Klug, kritisch, anregend – vor allem jederzeit unterhaltend
Das Ruhrgebiet – eine Region wie ein Gedicht!?
Eva von Redecker ist jedenfalls entschlossen, Beobachtungen und Erkenntnisse ihres „Rechercheaufenthaltes“ auch in Versform aufzuschreiben. „Ich stelle mir ein Versepos über die Bedeutung und Auswirkungen fossiler Brennstoffe vor“, erzählte die scheidende „Metropolenschreiberin Ruhr“ in den vollbesetzten Räumen des LeseRaums Akazienallee in Essen in den die Buchhandlung „proust Wörter + Töne“ geladen hatte Im Dialog mit dem Kulturjournalisten und Autoren Jens Dirksen blickte die Philosophin zurück auf die vergangenen Monate, die sie auf Einladung der Brost-Stiftung in Mülheim an der Ruhr verbracht hat.
„Eine Erkundung des Ruhrgebiets aus dem Rückspiegel“, wie Jens Dirksen-Delgado anmoderierte. Bei der sich aus der Beschreibung heraus jedoch der Blick permanent Richtung Zukunft wandte. Und, in guter Tradition der Region, von der oberflächlichen Wahrnehmung immer wieder in die Tiefe gebohrt wurde. Ein unterhaltsamer Abend, angefüllt mit Klischees – und ihrer nachhaltigen Erschütterung…
„Ich würde für den Besuch eines Stahlwerkes eher Eintritt zahlen als für die Oper.“
— Eva von Redecker
Als eine Art Reiseführer durch die Region nutzte Eva von Redecker den Roman „Einladung an die Waghalsigen“ von Dorothee Elmiger, in dem zwei Schwestern in der industriellen Endzeit ihre Herkunft und Hoffnung für die Zukunft suchen. Seit Jahrzehnten lodert in einem Stollen des Kohlereviers ein Feuer, mit der Entdeckung eines längst vergessenen Flusses eröffnet sich scheinbar eine Perspektive zum Besseren.
Die Analogien zu Elmigers Erzählung ziehen sich wie ein roter Faden durch das Gespräch der beiden Herzens-Ruhris. „Beim Besuch der Emscher-Genossenschaft kam mir in den Sinn, dass die Renaturierung des Flusses mit der Entdeckung des verschollenen Gewässers zu vergleichen ist“, erzählt von Redecker. Aus einer Kloake ist wieder ein lebendiges Stück Natur entstanden. In dieser Form einmalig und weltweit bestaunt.
Aber fließt die Emscher durch eine Region im Aufbruch oder ein Freilichtmuseum? Während die Philosophin die übrig gebliebene Industriearchitektur als „Dinosaurier“ beschreibt, die so erhaltenswert sind wie der Kölner Dom“, verweist Jens Dirksen-Delgado auf die kritische Einstellung, das Ruhrgebiet „gieße sich in Kunstharz“.
„Die Ruhrgebietsmenschen haben offensichtlich eine besondere Begabung zur Resilienz.“
— Jens Dirksen-Delgado
Die Widersprüchlichkeit setzt sich fort, als Eva von Redecker ihre Gefühle beim Besuch von ThyssenKrupp in Worte fasst. „Fürs Stahlwerk würde ich eher Eintritt zahlen als für die Oper“, erzählt sie begeistert. Aber was wird, wenn die Transformation zum „grünen Stahl“ nicht gelingt? „Wenn die Menschen weg sind, bleibt Stillstand statt Wertschöpfung. Die Gebäude sind nur noch totes Kapital.“
Spätestens hier rücken die Bewohner der Region in den Mittelpunkt, die, so Dirksen-Delgado, offensichtlich „über eine besondere Begabung zur Resilienz“ verfügen. Nach zahlreichen Begegnungen resümiert die Metropolenschreiberin: „Ich bestätige alle Klischees. Fast ausnahmslos bin ich netten, nahbaren Menschen begegnet.“ Besonders berührt habe sie der Besuch eines Nachbarschaftsprojektes, in dem eine alte Brauerei in eine Begegnungsstätte umgestaltet werden soll. „Der Raum wirkte, als sei er fluchtartig verlassen worden. Gläser standen auf dem Tresen, Schuhe flogen herum. Und dann diese optimistischen Menschen, die sich vorgenommen haben: Wir holen den Ort aus seinem Dornröschenschlaf!“
Die hoffnungsvollen Töne sind jedoch nicht frei von Skepsis, etwa in der Wahrnehmung des stolz besungenen „grünen Ruhrgebietes“. Eva von Redecker: „Natur ist keine Farbe. Ich sehe viel Grün, aber wenig Wildnis. Die Region erinnert eher an eine post-apokalyptische Landschaft.“ In der der Mensch verzweifelt versuche, etwas von geraubten natürlichen Ressourcen zurückzugeben. Auch die romantisierende Erinnerung an Bergmannskameradschaft unter Tage hinterfragt sie: „Mich erinnert der Zechenalltag mehr ans Militär, das Miteinander unter Tage war von Hierarchien geprägt. Lange Zeit konnten die zugewanderten Gastarbeiter beispielsweise nicht Steiger werden.“
Selbst der finale Versuch, der Region ein treffendes Etikett anzuheften, ist von Fragezeichen begleitet. Eva von Redecker: „Das Ruhrgebiet wurde durch Kohle und Stahl zusammengeschmiedet. Wenn es beides nicht mehr gibt, wie nennt man es dann? Lässt man alles, wie es ist?“
Gedanken und Fragen, auf die ein Gedicht bald neue Antworten geben wird…