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Reflexionen einer Metropolenschreiberin im August

Kranbetrachtung

Ein Beitrag unserer Metropolenschreiberin Dr. Eva von Redecker

Das erste Mal in meinem Leben hörte ich von Philosophie im Zusammenhang mit dem Kranfahren. Mein Vater nannte unseren Nachbarbauern einen Philosophen, weil er immer so tiefsinnige oder vielleicht auch eigensinnige Betrachtungen anstellte. „Das liegt daran, dass er Kranfahrer ist,“ sagte mein Vater. „Von da oben hat man einen ganz anderen Überblick.“ Das war eine freundliche Deutung, denn im Kranfahren versteckte sich auch eine große Kränkung: dass die Landwirtschaft nicht ausreichte zum Leben, eigentlich nur „Nebenerwerb“ war, querfinanziert vom Job auf dem Bau. So konnte er den Hof immerhin bis zur Rente halten, anders als der Großteil der Bauern um uns herum. Das Höfesterben ist wie das Zechensterben eine Reaktion auf Globalisierung und die Auslagerung von Produktion an billigere Standorte.

Das Duisburger Thyssenkrupp-Stahlwerk, das ich besichtigte, ist das einzige, das in Deutschland weiterhin produziert. Die Extraktion passiert andernorts: Kolumbianische Kohle, brasilianisches Eisenerz. Nach all den Industriedenkmälern im Dornröschenschlaf war es überraschend, überhaupt Menschen zwischen den Materialbergen zu sehen. In der Werkshalle musste man sich allerdings auch sehr anstrengen, in einer Steuerungskabine ganz unter der Decke oder auf einer Metallbrücke zwischen den Kesseln die Zuständigen zu erspähen. Was meinen Blick fesselte, waren die Maschinen, waren die Kessel und Kräne, die fassen konnten, was mir schier unbegreiflich schien: flüssigen Stahl. Denn das ist es ja, worauf die ganze Kohlewirtschaft zulief: Kohle unterstützt von der Verbrennung von Kohle in der Dampfmaschine in größeren Mengen fördern zu können. Dann Kohle im richtigen Mischverhältnis verschiedener Sorten unter Verbrennung von anderer Kohle zu Koks zu backen. Und dann diese potenzierte Kohle so heiß und gleichmäßig verbrennen zu können, dass sie Erz nicht nur in flüssiges Gusseisen verwandelt, sondern purifiziert, von Kohlenstoffresten befreit, in Stahl verwandelt. Flüssiger Stahl: der Gipfel der Industrialisierung.

Man hatte vor Teilnahme an der Fabrikführung bestätigen müssen, dass man schwindelfrei sei. Ich ahnte nichts von diesem anderen Schwindel, der Hypnose durch eine riesige Menge künstlich hergestellter Lava. Als verspürte irgendetwas in meinen Knochen einen Drang, sich in den urzeitlichen Erdkern zurückzustürzen. Sucht man nicht das ganze Leben, in jeder durchtanzten Nacht, in jeder bodenlosen Verliebtheit, im Fußballstadion oder in der Großdemo genau das: die ultimative Konzentration von Energie am eigenen Leib zu erleben, zumindest ganz kurz, ein einziges Mal nur…

Ich stand auf einer Empore mit Metallgitterlaufboden, lehnte mich gegen das lackierte Geländer und konzentrierte meine Erhaltungskräfte darauf, das schwitzige Handy, mit dem ich den vorbeiziehenden brodelnden Kessel filmte, nicht fallen zu lassen. Der Kessel hing an einem Greifkran und leuchtete. So schönes rötliches Licht wie aus einer Lavalampe, nur dass es eben keiner zusätzlichen Lampe bedrufte. Die Lava leuchtete selbst.

Der Mitarbeiter der Öffentlichkeitsarbeit erklärte gerade, dass Kohle-Abfallprodukte wichtige Grundbausteine für die Kosmetikindustrie liefere. „Erschrecken Sie sich nicht, meine Damen“, scherzte er, „das ist im Grunde alles Natur, 300 Millionen Jahre altes Gammelholz.“ So gesehen ist alle Chemie Natur. Ein Kolben von den Ausmaßen von 20 Litfasssäulen verschwand langsam in einem der Kessel an der gegenüberliegenden Wand: eine Entschwefelungslanze. Ich verstehe nicht, warum diese Vorführung keinen Eintritt kostet; ich würde viel eher dafür zahlen als für jedes Opernticket.

Der Kran führte jetzt einen schaukelnden Schrottcontainer in Richtung der Mündung eines anderen, nach vorn gekippten Kessels. Ein bestimmter Anteil Altmetall ist erforderlich für die Stahlproduktion und kühlt die Masse, durch die sechs Stunden lang ein 1250° heißer Wind blies, auch schon leicht vor. Der Kran steuerte rückwärts, hob das Ende des langgestreckten Containers an und führte ihn wieder Richtung Kessel.

„Komm rück mal drei Meter vor, komm rück mal drei retour“ lautet eine Zeile der „Anrede an den Kran Karl“, die Bertolt Brecht im Sommer 1927 verfasste, nachdem er vier Tage zu Recherchezwecken das Ruhrgebiet bereist hatte. Der damals neuberufene Indendant der Essener Oper, Rudolf Schulze-Dornburg, hatte in Absprache mit dem Oberbürgermeister Franz Bracht den kulturpolitischen Coup gelandet, eine „Ruhroper“ beim Komponisten Kurt Weill in Auftrag zu geben. Carl Koch sollte das Werk mit Dokumentar- und Trickfilm-Material ausstatten. Eine „Eroica der Arbeit“ nannte es Brecht, der für das Libretto zuständig sein sollte. Brecht wollte, wie man dem von ihm verfertigten Expose entnehmen kann, ein monumentales Panorama vorlegen, das die Geologie des Ruhrgebiets ebenso vermitteln sollte wie die Rolle des darin schuftenden Proletariat. 1927, noch nicht besonders marxistisch geschult, schlug Brecht auch den Kran dem Proletariat zu. „Denn Karl, das mußt du, denn Karl, das musst du, denn du gehörst zum Proletariat, und Karl: das ganze Proletariat, das darf nicht sagen: Nein.“ So gesehen ist alle Technik und Chemie Proletariat.

Das Ruhrepos kam über das Kran-Gedicht und wenige weitere kurze Texte wie „Kohlen für Mike“ und „Sang der Maschinen“ hinaus nicht zu Stande. Das Projekt wurde ohne weitere Erklärung von den Auftraggebern wieder abgesagt. Erst 1994 hat der Brecht-Forscher Stephan Bock das antisemitische Flugblatt entdeckt, das für den Stimmungsumschwung verantwortlich war. Im Berliner Brecht-Archiv konnte ich eine Kopie der Hetzschrift in Augenschein nehmen. Auf einer dicht in Fraktur bedruckten Seite wird ausgeführt, wie angeblich die gesamte Essener Kulturszene von Juden übernommen werde. Im Zentrum der Skandalisierung steht die geplante „Ruhrrevue“. Brecht selbst wird als Verfasser „wertloser, dekadenter, perverser Schauspiele die trotz aller Judenreklame außerhalb Berlins nicht ziehen“ beschrieben. Mir wurde schon wieder schwindelig.

Die Essener Bürgerschaft hatte über den Kulturdezernaten Druck auf die Theaterleitung ausgeübt und die Industrieoper verhindert. Brecht und seine Kollegen versuchten erfolglos, wenigstens für die bereits geleistet Arbeit ein Ausfallhonorar zu erhalten.

Kein Kran kann „Nein“ sagen; dem Proletariat als Ganzen ist es bislang auch nicht gelungen.

In Duisburg kühlen die Rohstahlblöcke aus, was bis zu drei Tagen dauert. Dann geht es ins Walzwerk, in die Verzinkung und dann in die Auto- oder Ubootfabrik, stets mit Kränen dazwischen. Wenn man Brecht und Weill glaubt, können sie immerhin singen.