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Reflexionen einer Metropolenschreiberin im Juli

Solidarität und Eingewöhnung

Ein Beitrag unserer Metropolenschreiberin Dr. Eva von Redecker

Neulich habe ich mich dabei ertappt, eingewöhnt zu sein. Seit Monat zwei fragten mich Leute „Haben Sie sich schon eingewöhnt?“ Es war mir immer etwas unangenehm „Nein“ zu sagen. Aber vor ein paar Wochen, als ich von irgendeiner Lesung zurück ins Ruhrgebiet fuhr, als ab Dortmund plötzlich nichts Grünes, kein roter Backstein, überhaupt eigentlich nichts Altes mehr vorm Fenster des ICEs war, befiel mich nicht diese inzwischen vertraute Klaustrophobie-trotz-offenen-Himmels. Ich enterte das umbaute, betonierte, mit Überlandleitungen dekorierte Revier, der Zug hielt jetzt im 10minuten-Takt und da war etwas anderes. Eine Art Entspannung, ein Gefühl von Vertrautheit: ich hatte mich eingewöhnt. Mehr als eingewöhnt, es war keine Resignation, sondern eine mir an mir selbst vollkommen unbekannte Komplizenschaft mit dem Beton. Wäre die Betonindustrie ein Land, würden nur die USA und China mehr Emissionen ausstoßen als Betonien. Der Bergbau mag zu Ende sein, die fossile Wachstumswirtschaft hat danach erst richtig Fahrt aufgenommen. Beton ist die Hauptlast, mit der wir diese Erde beschweren. Seit ein paar Jahren ist sogar die Schwelle überschritten, an der das, was die Erde selbst hervorwachsen lässt, also Bäume, Tiere, alle organische Masse zusammengerechnet weniger wiegt als das menschengemachte Material. Aber jetzt sind sie eben da, die Stahlbeton-Neubauten. Und sind sie nicht eigentlich unverdächtiger als die Wilhelminischen Altbauwohnungen, um die sich alle Hipster in Berlin reißen? Ich lief zur Bushaltestelle unter der Überführung einer Schnellstrasse und war zufrieden.

Mein eigentlicher Kontrast ist natürlich das Unbebaute. Weiterhin rolle ich mit den Augen wenn jemand Zustimmung heischend sagt „aber eigentlich ist das Ruhrgebiet doch viel grüner als man denkt.“ Ich weiß nicht, was Andere denken, aber es ist weniger grün als ich überhaupt denken kann. Und dann ist ein Teil des Grüns auch noch Japanischer Staudenknöterich, unter dessen riesigen Blätterlappen auch nicht viel mehr wächst als unterm Pflaster. Aber zurück zu Neubau, Asphalt und Zement.

Mir wurde mehrfach gesagt, dass viele Ruhrgebietler dort blieben oder zumindest zurück kehrten. Während meiner Zeit hier zieht eine befreundete Kollegin von Hamburg heim nach Essen (Rasha Khayat, lesen Sie Ihren neuen Roman Wir kehren nicht zurück.) Bleibefreiheit im Ruhrgebiet. Man muss es offenbar mögen können. Ich bekomme langsam auch Übung. Warum? Woher kommt diese Entspannung, dieses Gefühl, nicht deplatziert zu sein, dieses leicht grimmige Wohlwollen gegenüber einer nicht gerade lieblichen Umgebung?

Im Bochumer Bergbaumuseum starre ich auf ein Ölgemälde, das einen Besuch Kaiser Wilhelms in der Zeche Lothringen abbildet. Am 08. August 1912 kam es dort zu einem besonders schweren Grubenunglück, einer Schlagwetterexplosion, wie man die Entzündung des Methan-Sauerstoff-Gemisches nennt, das sich in der Grube bilden kann. Circa 115 Bergleute starben. Wilhelm II kam, um ihnen Respekt zu zollen. Allerdings war er sowieso gerade in Essen beim Großindustriellen Krupp zu Besuch, so dass der Besuch, der auch anschließenden Streiks vorbeugen sollte, wenig Aufwand bereitete. Die Toten wurden nach Konfession getrennt in Massengräbern beigesetzt. Dreihunderttausend Menschen säumten die Strasse, um ihnen das letzte Geleit zu geben.

Auch bei der Waldarbeit in Brandenburg sterben Menschen. Die Gefahren des Bergbaus hatten dennoch eine andere Dimension. Es muss ein Wissen darum geben in den Körpern derer, die diese Arbeit überlebt haben. Irgendetwas halt noch nach. Unterschwellig, aber auch ganz bewusst erinnert, wie bei der Gedenkfeier, die die Stadt Bochum zusammen mit dem Knappenverein und der evangelischen Gemeinde im August 2012 abhielt. Man kann sagen, dass Wohlstand aller und absurder Reichtum mancher genau hier, im Ruhrgebiet, mit Menschenopfern erkauft wurde.

Ist dieser Schrecken womöglich Teil der Ortsbindung im Ruhrgebiet? Denn aus diesem Gebiet kann man wirklich keinen Teil der arbeitenden Menschheit verweisen. Schließlich liegt hier ein Teil von uns begraben. Und obwohl jeder Transportweg und jedes Wohnhaus von Menschen gebaut wurde, sind doch gerade die Funktionsbauten des Ruhrgebiets welche, die sagen, dass sie da sind, um benutzt zu werden. Ein Wald ist sich selbst genug. Nichts in diesem Betonballungsraum würde Sinn machen, ohne dass die Menschen da sind. Vom immer schon fragwürdigen Sinn der Opfer ganz zu schweigen.

Dass da eine Zugehörigkeit in der Luft liegt, kann natürlich nicht von den Bauten und Brücken allein ausgehen. Es ist auch etwas Solides in den Leuten. Anfangs schien es mir einfallslos, die Diagnose der Ruhrgebiets-Solidarität zu wiederholen. Aber wenn was dran ist, ist es ja wichtiger, das anzuerkennen, als Einfälle zu haben. Es scheint zu stimmen, dass die Leute irgendwie direkter, handfester, weniger mit sich selbst und ihrem Status befasst sind. Dass sie sich schwer aus der Ruhe bringen lassen, aber Probleme als geteilte Aufgaben verstehen, vor deren Erledigung man sich nicht drückt. Hilfsbereitschaft also, aber ohne Herablassung.

So wie ich den Bergbau bislang beschrieben habe, beschleicht einen der Verdacht, dass diese Solidarität allzu eng mit soldatischer Kameradschaft verwandt sein könnte. Man hält als Männerbund zusammen im Raubzug an der Natur. Dann ehrt der Kaiser die Gefallenen. Eine Spur davon stimmt wohl und überschattet die Feiern musealisierter Industriekultur, während die freigesetzten Emissionen fortlaufend Verheerung anrichten.

Aber Bergbau ist eben nicht nur Plünderung, sie ist auch Arbeit. Die helle Seite der Kumpel-Solidarität erklärt sich nur bei genauerer Betrachtung dieser Arbeit. Die langen Stollen der Bergwerke schufen die Bedingungen für eine ungewöhnliche Autonomie der Kumpel. Der Aufseher (Steiger) kam oft nur einmal pro Schicht vorbei. In seinem Werk Stoffwechselpolitik beschreibt der Arbeitssoziologe Simon Schaupp weitere Faktoren, die zur Herausbildung einer selbstbewussten Arbeiterkultur führten. Bergleute durchliefen anders als Handwerker keine formale Lehrlingszeit. Sie wurden von Kollegen angelernt, ohne die Hierarchie zum Meister. Die Hauer, die die Kohle aus dem Stollen schlugen, arbeiteten in Kameradschaften von etwas sieben Personen. Sie wählten einen Sprecher und entschieden ohne Aufsicht über sehr weitreichende Dinge – etwa, wo die Stützpfeiler angebracht würden, von denen aller Leben abhingen. Der Lohn wurde im kollektiven Akkord bezahlt, je nachdem, wie viele Kohlewagen die Kameradschaft füllte. Man konkurrierte also nicht mit seinem direkten Nebenmann und wer sich drückte, schadete allen. Schaupp sieht in diesen sehr speziellen Arbeitsbedingungen den Ursprung proletarischer Identität: „eines Gruppenbewusstseins, das von lokalen kulturellen und religiösen Traditionen weitgehend unabhängig ist und vor allem auf der geteilten Arbeitserfahrung und dem Konflikt mit Unternehmern und Vorgesetzen aufbaut.“ Zu dieser Identität gehört natürlich auch der Stolz, der eigentlich rechtmäßige Besitzer der Früchte der Arbeit zu sein. Auch wenn dieser Anspruch nach wie vor uneingelöst ist: sich im Ruhrgebiet einzugewöhnen, ist anders als das Ankommen an anderen Orten. Es geht nicht darum „die schönen Ecken“ zu finden. Kann man machen, aber anderswo fände man mehr. Sich einzugewöhnen heisst einen Geschmack dafür zu entwickeln, die Welt anständig zu teilen. Und irgendwie sieht man es der Welt hier besonders gut an, dass sie genau dazu da ist.