Keine Furcht vor der Wahrheit
Keine Furcht vor der Wahrheit
Die „Klartext-Tour“ verbindet Information und Unterhaltung. Eine neue Form von Qualitätsjournalismus
Zum Auftakt grüßen King Kong und Martin Luther King von der Leinwand, die Moderatorin führt singend im Stile von Marilyn Monroe in den US-Präsidentenwahlkampf ein. Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel äußert sich anschließend auf offener Bühne deutlich über „seine“ SPD. Die Pioneer-Band füllt im Verlauf des Abends jazzig die Pausen zwischen den zu Herzen gehenden Erzählungen des Bonner Chirurgen Jan Wynands vom Einsatz im Gazastreifen und dem Weckruf von Diana Kinnert zum Kampf gegen die Einsamkeit in unserer Gesellschaft…
Willkommen zur „Expedition in die Wirklichkeit“ – unter diesem Motto hatte das Onlineportal „The Pioneer“ ins GOP-Theater Essen eingeladen.
„Es geht um eine neue, um eine kritische und zugleich gut gelaunte Beschäftigung mit unserer Gegenwart.“
— Pioneer-Chefredakteur Gabor Steingart
Im ausverkauften Haus erwarteten die Gäste der von der Brost-Stiftung geförderten „Klartext-Tour“ (14 Städte sind geplant) der Ankündigung folgend „Nichts als die Wahrheit“. Und die kann, selbst auf der politischen Bühne, durchaus unterhaltend sein! „Wir möchten informieren und inspirieren, Sie an den gesellschaftlichen Debatten teilhaben lassen“, formulierte Pioneer-Chefredakteur Gabor Steingart das Ziel des Abends und der Tour. „Demokratischer Journalismus bedeutet bei aller kritischen Weltbetrachtung auch, Zuversicht und Freude zu verbreiten.“
So übertrug er die aktuelle Pannenserie von Bundeskanzler Olaf Scholz in das Märchen vom „Hans im Glück“, der aus jeder Volte des Lebens eigentlich als Verlierer hervorgeht. Bei „Olaf im Pech“ bleibt der Held am Ende mit einem Mühlstein um den Hals zurück, der mit „Warburg Bank“ beschriftet ist. Gestützt auf die vorgetragenen Tagebucheintragungen des Warburg-Chefs Olearius prophezeit Steingart dem Kanzler noch weiteren Ärger bei der Aufarbeitung seiner Gedächtnislücken im Cum-Ex-Skandal.
„Wir erleben im Journalismus eine ständige Selbstüberhöhung. Die sogenannte 4. Gewalt wurde ins Grundgesetz hinein erfunden.“
— Pioneer-Chefredakteur Gabor Steingart
Deutliche Worte für Partei und Personal fand Ex-Außenminister Sigmar Gabriel im Gespräch mit Moderatorin Chelsea Spieker. „Ginge die Rechnung auf, dass Geld für den Sozialstaat sich auf die Wählergunst auszahlt, müsste die SPD eine zweidrittel Mehrheit haben.“ Und weiter: „Die Partei muss einmal darüber nachdenken, warum sie den Touch zur Bevölkerung verloren hat.“ „Ich gebe nicht Generalsekretär Kevin Kühnert die Schuld für desaströse Auftritte, sondern denen, die ihm den Job gegeben haben.“ Das Publikum bekundete seine Zustimmung mit Applaus.
Gabriel ordnete jedoch den vermeintlichen Rechtsruck nach der Europawahl zurückhaltend ein und kann auch zeitnah keine entscheidenden Änderungen im demokratischen Spektrum in Deutschland erkennen. „Bei der nächsten Wahl 2025 ist ein Machtwechsel zu erwarten, es wird sich eine neue Koalition bilden. Aber die muss dann bei den zentralen Themen Migration, Wirtschaftsstandort und Bildungspolitik liefern. Wenn die Menschen noch einmal enttäuscht werden, mache ich mir für 2029 große Sorgen.“
Nach anhaltendem Beifall wurde es an den Tischen des GOP-Varietés sehr leise, als Jan Wynands, ästhetischer Chirurg im Hauptberuf, von seinem Hilfseinsatz im Gazastreifen berichtete. Mit der Präzision eines Skalpells beschrieb er schreckliche Verstümmelungen, die er den jeweiligen Waffen zuordnen konnte. Die Wahrheit über einen Bombenkrieg, der in seinen verheerenden Ausmaßen weit über die mit Schusswaffen geführten Auseinandersetzungen zum Beispiel im Sudan hinausgeht. Wahrheit kann schmerzen…
„Die nächste Regierung muss eine bessere Politik machen, sonst drohen Verhältnisse wie aktuell in Frankreich. Verheerend wäre, wenn die Bürger ihre Politiker nur noch als „die da oben“ wahrnehmen.“
— Ex-Außenminister Sigmar Gabriel
Und sie lässt sich nicht dauerhaft verdrängen. Publizistin Diana Kinnert weist seit Jahren auf das gesellschaftliche Phänomen der Einsamkeit hin, dem sich andere Staaten inzwischen auf höchster Ebene annehmen. „Allein in Deutschland sagen 14 Millionen Menschen, dass sie sich einsam fühlen“, erklärt Kinnert in einem emotionalen Vortrag. „Experten sprechen bereits von einer Epidemie, und das weltweit. Die Folgen sind riskant: Gesellschaften zersplittern, der Radikalismus erstarkt und bedroht unsere Demokratie.“
Aber auch der Schlussmonolog des Abends soll keine verzweifelte Grundstimmung auslösen. Kinnert ermuntert: „Freundschaft ist die Antwort auf Einsamkeit!“ Die Herz und Hirn gleichermaßen bewegende Veranstaltung beendet Steingart mit dem Appell an ein neues bürgerliches Miteinander. „Zuversicht ist die wichtigste Zutat, um der Demokratie einen Dienst zu erweisen. Nehmen wir uns doch alle vor, bei der nächsten Debatte unseren Gegenüber ausreden zu lassen und ihm nicht gleich an die Gurgel zu gehen.“
Dem langanhaltenden Applaus für Redner und Musiker folgend, scheint die Botschaft angekommen zu sein.
Fotos ©Anne Hufnagel