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Ein Traumtor mitten ins Herz

Das dokumentarische Theaterstück „Die Nacht von Sevilla“ vermittelte nicht nur Fußballfans Gänsehaut-Gefühle. Obwohl gar kein Ball rollt!

Der Rundblick in den Zuschauerraum des Kölner Gürzenich machte schnell klar: Die Mehrzahl der Anwesenden hat am Abend des 8. Juli 1982 vor dem Fernsehschirm mitgefiebert, einige waren live vor Ort, auf dem Platz sogar, wie Kapitän und Rechtsverteidiger Manfred Kaltz. Beim Halbfinale zwischen Deutschland und Frankreich in Sevilla, einem der denkwürdigsten Spiele in der Geschichte der Fußballweltmeisterschaft. Und alle erwarteten mit Spannung eine neue Form von Rückschau, die das dokumentarische Theaterstück „Die Nacht von Sevilla“ versprach…
Für einen der Hauptdarsteller im später so getauften „Jahrhundertspiel“ war es ein Heimspiel: Harald „Toni“ Schumacher hatte gemeinsam mit Frau Jasmin und der Brost-Stiftung zum Mit- und Nacherleben jener Fußballschlacht eingeladen, die zeitweise die deutsch-französische Freundschaft außer Kraft zu setzen drohte.

Der schreckliche Zusammenprall von Schumacher und Patrick Battiston (57. Spielminute), die spektakuläre Verlängerung und das erste Elfmeterschießen einer WM – Autor Manuel Neukirchner vermittelt den Eindruck, man stünde an jenem schwülen Abend im Sommer 1982 (Temperatur noch in der Verlängerung bei 32 Grad) selbst auf dem Rasen im Estadio Ramón Sánchez Pizjuán von Sevilla. Einzigartig dabei der Einblick in die Gedankenwelt der Helden, die im Rückblick die Schlüsselszenen noch einmal intensiver nachzeichnen.

„Dieses Theaterstück ist unterhaltsam, hochgradig spannend und mindestens so gut wie die mehr als zwei Stunden im Stadion von Sevilla.“

— Paul Breitner, Spielmacher der deutschen Nationalmannschaft bei der WM 1982

Erinnern Sie sich noch an den ersten französischen Schützen im Elfmeterschießen? Alain Giresse verharrte minutenlang vor dem Anlauf, den Rücken zum deutschen Torwart gewandt. „Ich wollte nicht, dass Toni Schumacher in meinen Kopf reinkommt“, erzählt er später. Peter Lohmeyer gibt auf der spartanisch dekorierten Bühne den Gedanken Stimme, eingebettet in die Reportage des Spieltages, Beginn 19.30 Uhr mit Eintreffen der Mannschaften. Nur Fotos in einem Bullauge über ihm helfen der Erinnerung auf die Sprünge…
Die Dialoge und Monologe der im Stück auftretenden Figuren stammen aus Autobiografien, Interviews, Dokumentationen, Zeitungsberichten, Fernsehübertragungen sowie aus Gesprächen Neukirchners, Gründungsdirektor des Deutschen Fußballmuseums Dortmund.
„In diesem Jahrhundertspiel in Sevilla habe ich alle Gefühlszustände durchlebt, die ein Fußballspieler durchleben kann“, erzählt Toni Schumacher. „Für mich war der schreckliche Zusammenprall mit Patrick Battiston natürlich ein einschneidendes Erlebnis, das du in einem solchen Spiel auch erst einmal wegstecken musst. Dieses Halbfinale von Sevilla war im wahrsten Sinne des Wortes ein Drama. Es auf die Bühne zu bringen, war eine großartige Idee. Fußball und Theater finden zusammen, zwei Welten verbinden sich, wie es das bisher in dieser Form noch nicht gegeben hat. Die Aufführung ist ein herausragender Kulturbeitrag zur heimischen Fußball-EM.“
Ein Beleg dafür: Alle fünf Tournee-Vorführungen des von der Brost-Stiftung geförderten Theaterevents in Recklinghausen, Dortmund, Gelsenkirchen oder Dienstag in Köln waren ausverkauft!

„Wir freuen uns über den Erfolg dieses von der Brost-Stiftung angeregten Theater-Experimentes. Die Rückmeldungen der Besucher zeigen, dass es Peter Lohmeyer und Toni Schumacher gelungen ist, auf Steilpass von Manuel Neukirchner, die mit diesem Spiel verknüpften Emotionen um eine neue Dimension zu bereichern. Als fußballbegeisterte Stiftung sind wir glücklich über diesen gelungenen Beitrag zur EM in Deutschland.“

— Dr. Boris Berger, Mitglied des Vorstands der Brost-Stiftung

Obwohl Battiston zum Glück nicht so schwer verletzt war, wie es schien, wurde der deutsche Torwart zur Hassperson. Die französischen Medien holten die Vergleiche mit den deutschen Panzern zurück, ein Reporter von „Libération“ rastete sprachlich aus: „Dieses wilde Tier, das der deutsche Fußball ist, verdient es, im eigenen Urin ertränkt zu werden.“ Kapitän Michel Platini versucht in einem offenen Brief ans französische Volk sein Gefühlschaos zu verarbeiten, der in der Zeitung „Paris Match“ veröffentlicht wird. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt schreibt beschwichtigend an Staatspräsident Francois Mitterand…

Am Ende kommt Harald Schumacher selbst auf die Bühne und liest sein persönliches Resümee der Geschehnisse. Den Jüngeren im Saal ohne Live-Erinnerung wird spätestens jetzt klar: Dieses sagenhafte Spiel mit seinen sagenhaften Nachwirkungen hat es wirklich gegeben. Der überragende und umstrittene Torwart beschreibt, unerwartet verletzlich, was diese „Nacht von Sevilla“ sportlich und als Mensch mit ihm gemacht hat.

Schumacher am Galgen

Entschuldigung angenommen hat“, sagt „Toni“ heute. Er sei als Mensch und Sportler, am teilweise unmenschlichen Widerstand, gewachsen. In Umfragen nach dem schlimmsten Deutschen landete er in Frankreich vor Adolf Hitler, noch Jahre später hing er dort in Stadien als Puppe am Galgen. Schumachers Familie wird bedroht, zeitweise erhält er Personenschutz. Nach 42 Jahren kann er heute zu den seelischen Verletzungen stehen, aus denen er gleichwohl Widerstandkraft für eine bewegte Karriere gewonnen habe. Auch einen Fehler gibt er zu: „Ich war wohl zu feige, um zu Patrick zu gehen und mich um ihn zu kümmern. Er war umringt von aufgeregten Mitspielern, ich fürchtete, die Situation könnte eskalieren. Das würde ich im Rückblick anders machen.“

Es holt die emotionsgeladenen Ereignisse von 1982 auf wohltuende Weise im Vorfeld der Heim-EM 2024 in ihren sportlichen Kontext zurück, wenn der heute 70-Jährige vor dem begeisterten Schlussapplaus (auch der jüngeren Zuhörer!) bekennt: „Ich habe im Gespräch mit Battiston aber auch gesagt: Wenn dieser Ball heute noch einmal so gespielt würde, wäre ich wieder unterwegs aus meinem Tor. Ich war fest überzeugt, dass ich den Ball kriegen würde…“