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Neuer Blick auf die alte Heimat

Zum Auftakt einer Weltreise zeigt Dieter Nuhr aktuelle Bilder und Zeichnungen in der Essener Kreuzeskirche

Die Entstehungsgeschichte der Bilderschau „Woanders ist überall“ erinnert verblüffend an die Startphase von „Melting Pott“, Till Brönners gefeierter Fotoausstellung. „Ich war wie ein chinesischer Tourist im Ruhrgebiet mit der Kamera unterwegs“, erzählt Dieter Nuhr zur Ausstellungseröffnung in der Essener Kreuzeskirche. „Ich habe den natürlichen Lebensraum, der mich geprägt hat, in Teilen neu entdeckt.“

Das künstlerische Resultat konnten die rund 200 Besucher der gestrigen Preview zu „Woanders ist überall“ in Auszügen im meterhohen Altarraum der Kirche auf sich wirken lassen. Beispielsweise das Motiv einer Eisenbahnbrücke, in dem Nuhr seine Fotografie in bekannter Weise mit digitalen Pinseln bearbeitet und verfremdet hat. „So entsteht ein Spiel aus Realität und abstrakter Kunst.“ Entdeckt hat er das Bauwerk übrigens bei einem Streifzug am Rande des Duisburger Landschaftsparks…

Reisekünstler und Heimatkünstler

Nicht nur die Brücke wird auf eine Reise zu zehn Stationen im In- und Ausland gehen – darunter  Wien, München, Havanna und Rotterdam. „Der Großteil der Bilder zeigt diesmal das Rhein-Ruhrgebiet“, so Nuhr. „Dank der Inspiration durch die Brost-Stiftung bin ich jetzt nicht nur Reisekünstler, sondern auch Heimatkünstler.“

„Es ist ein Verdienst der Brost-Stiftung, Kunst nicht nur für eine Elite, sondern für alle Bürger zugänglich zu machen.“

— Hendrik Wüst, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen

Die neue  Ausstellung „Woanders ist überall“ soll den Erfolg der Vorgängerreihe „Von Fernen umgeben“ fortsetzen und führt den Betrachter nicht nur auf eine Reise durch das Ruhrgebiet und den Rest der Welt, sondern nutzt auch autobiografische und historische Quellen und will so den Horizont der Ausstellung um eine zeitliche Perspektive erweitern.

Essen bildet dabei nach Einschätzung von NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst den perfekten Startpunkt, „weil die Bilder eine Region im Wandel zeigen“. Nuhrs Werke seien Belege für den Transformationsprozess des Ruhrgebietes. Wüst: „Dabei ist Wandel nicht immer frei von Enttäuschung. Nicht nur in der Kunst blicken wir auf work in progress. Dieter Nuhr erweitert den Horizont, gerne mehr davon.“

Auch Nu(h)r ein Mensch

Inmitten der großformatigen Landschaftsbilder, die unter der Kuppel des Kirchenbaus perfekt zur Geltung kommen, laufen in Form einer Diashow Zeichnungen Nuhrs über einen Monitor. Sie sollen an künftigen Ausstellungsorten einen neuen Schwerpunkt in der Bilderschau setzen. „Ich nutze die Zeichnungen, wenn es um die Darstellung von Menschen geht, weil ich es nicht angemessen finde, einer Person einfach die Kamera ins Gesicht zu halten. Als Vorlagen habe ich Figuren aus historischen Gemälden entnommen, aber auch aus dem privaten Fotoalbum. Die Zeichnungen setze ich in einen abstrakten Raum, so dass die Bilder mit unterschiedlichen Personen gleichberechtigt nebeneinander passen. So soll in Wien ein Panoptikum der Menschlichkeit entstehen.“

 

In der rappelvollen Kulturkirche gab der gefeierte TV-Comedian dann auch ungewohnte Einblicke in das Innenleben des Menschen Nuhr. „Im Grunde bin ich ein schüchterner Mensch, diese tiefe, meditative Seite drückt sich über meine Bilder aus.“ Und eigentlich war ihm an diesem Abend trotz des Anlasses nicht nach feiern: „Mein Seelenzustand entspricht dem Ergebnis des gestrigen Spiels zwischen Fortuna Düsseldorf und dem VfL Bochum. Auch wenn ich sagen muss: Wer Fortuna als Fan folgt, hat im Leben nicht mehr viel zu befürchten.“

Für die Nicht-Fußballfans sei erklärt, dass Düsseldorf mit dem 5:6 nach Elfmeterschießen noch den sicher geglaubten Bundesligaaufstieg verspielte. In welchem Landschaftsmotiv soll man jemals diese Enttäuschung verarbeiten…?

Die Ausstellung „Woanders ist überall“ wird offiziell am 09.07.2024 mit einer Vernissage in Wien eröffnet und ist dort bis zum 04.08.2024 zu sehen, bevor es dann weiter nach München geht.

 
 
 
 
 
 

Begrüßung des Vorstandsvorsitzenden der Brost-Stiftung, Prof. Bodo Hombach

Verehrter, lieber Herr Ministerpräsident Wüst,
verehrter, lieber Herr Oberbürgermeister Buchholz, verehrter, lieber Herr Nuhr!
Verehrte, liebe Gäste jedweden selbst gewählten Geschlechtes!
Die Brost-Stiftung begrüßt Sie alle sehr herzlich.
Psychologische Reaktanz verbreitet sich! Das ist die Motivation, die sich gegen übergriffige Bevormundung aufbäumt. Die sehnt sich nach Wiederherstellung eingeengter oder eliminierter Freiheitsspielräume. Das kann emanzipatorisch sein. Das kann missbrauchtwerden. Herr Trump lebt gut vom: „Endlich sagt einer, was wir nur denken dürfen“. Unser Ministerpräsident hat in seiner Regierungserklärung im November `21 betont: „Eine Politik der Mitte beschäftigt sich nicht mit Ideologien, sondern mit der alltäglichen Realität der Menschen.“
Das braucht Menschen, die uns helfen, ein realistisches Bild unserer Welt zu gewinnen. Herr Nuhr lässt sich dabei von selbstermächtigten Gesinnungswarten und Sprach-Controllern nicht aufhalten. Gesinnungskunst ist nicht sein Ding. Dafür schätzen wir ihn! Heute werden wir Fotogemälde des studierten bildenden Künstlers Dieter Nuhr sehen. Die Ausstellung wird u.a. nach Wien, München, Florenz, Paris, Havanna, Rotterdam weiterziehen. Wie auch die Vorgänger-Ausstellungen „Von Fernen umgeben“. Die war Versuch, neuartige Aufmerksamkeit fürs Nahe zu wecken, für unsere Region mit ihren ungewöhnlich durchlässigen Rändern.
Die wirtschaftliche und kulturelle Dynamik der Ruhr-Region saugt auf und strahlt aus. Sie ist damit zwangsläufig Objekt im globalen Wandel. Von „Fernen“ also nicht nur umgeben, sondern disponiert und befrachtet. Der neue Titel ist mehr Appell als Interpretation.
„Woanders“ ist überall. – Der wortmächtige Herr Nuhr hinterlegt mit seinem Titel kein Wortspiel oder Aphorismus. Er ist Quintessenz seiner „Expedition ins Landesinnere“. Dieter Nuhr erkundet das Ruhrgebiet unter historischer Perspektive. Aber – und das ist subjektive Wahrnehmung – es geht nicht um Dokumentation oder Fest-Stellung. Es geht um Kraftfelder und Prägendes. Die identifizierbaren Metaphern heißen „Brücke“ und „Begegnung“. Das „Woanders“ ist nicht notwendig bedrohlich fremd. Es ist das eigentlich Normale. Es ist folglich „überall“. Der Homo Sapiens ist unterwegs durch Flucht und Vertreibung. Noch mehr sind mental entwurzelt und unterwegs wegen aufgemischter Lebensumstände und rasanter Irritation aller Weltbilder.
Ich denke an die Zeile aus Rilkes „Sturmnacht“: „Himmel von hundert Tagen über einem einzigen Tag.“ Eine solche Ausstellung ist scharf auf Begegnung und Auseinandersetzung. Die sich Selbstguten und Gefallsüchtigen können sich ruhig provoziert fühlen. Da erkennt man den ganzen Dieter Nuhr wieder. Dem nicht das Erzählte reicht, sondern das Erreichte zählt.
Diesmal ist er nicht wort-, sondern ausstrahlungsaktiv. Der Ausstellende will sich und uns mit dem „Woanders“ immer neu kontaminieren. Ich danke dem Künstler, der sich auf dieses Abenteuer eingelassen hat, und dass er uns ein bisschen mitnimmt.
Gegenwind motiviert!
Ich danke Ihnen und allen künftigen Besuchern, die diesen Impuls aufgreifen und für sich verarbeiten. Ich danke unserem Kuratoriumsmitglied und Ministerpräsidenten, dass er uns und Herrn Nuhr als Laudator die Ehre gibt.