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Ein guter Abend in schlechten Zeiten

Ein guter Abend in schlechten Zeiten

Podiumsdiskussion auf Einladung der Brost-Stiftung vermittelte Fakten und Verständnis zum deutsch-ungarischen Verhältnis

Die Gesprächsrunde hatte etwas von Paar-, genauer betrachtet sogar Familientherapie. Wenn es in der Beziehung kriselt, raten Therapeuten nicht selten schon in der ersten Sitzung: „Erinnert euch doch an die schönen Zeiten, an die vielen Dinge, die ihr gemeinsam erreicht habt!“. Diesem (unausgesprochenen) Appell folgten vor allem Armin Laschet, früherer NRW-Ministerpräsident, sowie der ungarische Botschafter Péter Györkös in der Diskussion „Partnerschaft in schwierigen Zeiten? Ungarn, die EU und NRW“ im Erich Brost-Pavillon. Unter Moderation der WDR-Journalistin Susanna Zdrzalek vervollständigte Meret Baumann, Korrespondentin für Ostmitteleuropa bei der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), das Podium. Die in Ungarn geborene Musikerlegende Leslie Mandoki musste wegen Erkältung passen.

„Seit dem 14. Jahrhundert steht bereits eine ungarische Kapelle am Aachener Dom“, schlug Laschet zum Auftakt den weiten Bogen gemeinsamer Geschichte. Zu deren Höhepunkten das sogenannte „Paneuropäische Picknick,“ zähle, in dessen Verlauf mehr als 600 DDR-Bürger am 19. August 1989 die kurze Grenzöffnung in Ungarn zur Flucht in den Westen genutzt hätten.
Botschafter Györkös verwies auf Helmut Kohl zurück, der in der Analyse der deutschen Wiedervereinigung festgehalten hatte, dass „die Ungarn den ersten Stein aus der Mauer genommen haben“. Györkös: „Wenn die Deutschen und die Ungarn, die 1989 eigentlich den Weg zu der Wiedervereinigung Europas auf den Weg gebracht haben, einander verstehen, dann ist das ein Gewinn für Europa. Wenn wir uns nicht verstehen, ist das ein Symptom für die großen Probleme im Zusammenhalt Europas.“ Der schwelende Beziehungszoff tangiert also alle 27 Mitglieder der EU-Großfamilie…

„Es ist eine Riesenleistung, dass nach dem Fall der Mauer zehn Länder, eigentlich zwölf, ohne jeden Schuss vom Bündnis des Warschauer Paktes übergingen in eine soziale, freie Demokratie der Europäischen Union.“

— Armin Laschet, MdB und Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen a.D.

Nach Einschätzung Baumanns verdanken die Ungarn der Aufnahme in diesen Verbund nicht nur materiellen Wohlstand: „Ungarn hat enorm profitiert von der EU. Die Zugehörigkeit zu EU und Nato haben das Land in die Mitte Europas gerückt.“ Es gebe berechtigte Kritik und Vorwürfe an Ungarn „und das muss geklärt werden.“ Europa könne nur funktionieren, wenn sich alle an die vereinbarten Regeln hielten.

„Die OECD ist bei den letzten Wahlen in Ungarn zum Schluss gekommen, dass diese zwar frei waren, aber nicht fair. Und das ist auch meine Einschätzung. Weil die Regierungspartei einfach strukturelle Vorteile hat. Aber Tatsache ist trotzdem, dass Viktor Orban bei der Mehrheit der Bevölkerung völlig unabhängig von der Mediensituation sehr populär ist.“

— Meret Baumann, NZZ-Korrespondentin

Laschet warnte im Verlauf der Debatte vor politischen Wunschkonzerten und kurzsichtigen Reflexen. „Als Frau Meloni in Italien an die Regierung kam, dachten alle, das geht nie gut. Tatsächlich macht sie eine total pro-europäische Politik und unterstützt die Ukraine. Wichtig ist es, dass die Tür zu Gesprächen immer offen bleibt.“ Das gelte für die Slowakei ebenso wie für Ungarn oder die Türkei, sowie Rechtspopulisten von den Niederlanden bis nach Skandinavien.

„Wir sind in einer Phase von Entfernung und Entfremdung. Jede kritische Äußerung eines deutschen Politikers gegen Ungarn löst automatisch eine heftige Gegenreaktion aus.“

— Péter Györkös, ungarischer Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland

Bei allen Meinungsverschiedenheiten betonte Laschet die wichtige Rolle Ungarns im internationalen Dialog nicht zuletzt mit den USA. „Auch wenn sich die meisten hier im Raum eine Fortsetzung der Biden-Regierung wünschen – vielleicht sind wir im Herbst froh, wenn jemand noch einen Gesprächsfaden zu Donald Trump hat.“

Ungarns Botschafter betonte darüber hinaus, dass sich die Regierung von Viktor Orban nicht nur zu einem starken Europa bekannt, sondern auch bereits moderne Rüstungsfabriken gebaut habe. „Die ungarische Armee ist besser ausgerüstet mit modernsten deutschen Militärtechnologien als die Bundeswehr selbst.“ Györkös verteidigte sein Land auch gegen Kritik an der harten Grenzpolitik, vor allem aus einem Land wie Deutschland, das keine EU-Außengrenze zu schützen habe. „Wir sind Zaunkönige im positiven Sinne. Wir wussten, wann man einen Zaun abbauen muss und wann man einen Zaun an den grünen Außengrenzen errichten muss. Dafür sind wir nur als Unmenschen beschimpft worden.“

In Zeiten der Bonner Republik seien sich die beiden Länder nicht nur bezogen auf die geografische Lage der Hauptstädte näher gewesen. Gleichwohl werde Ungarn die bevorstehende EU-Ratspräsidentschaft ähnlich effizient gestalten wie die vorherige. Dazu wünsche er sich, in Anlehnung an ein aktuelles Zitat von Prof. Bodo Hombach, Vorstandsvorsitzender der Brost-Stiftung, politische Partner, „die illusionsarm und realitätstüchtig sind“.

Der renommierte Fotograf und Musiker Till Brönner begab sich mit Unterstützung der Brost-Stiftung auf eine faszinierende fotografische Reise durch Europa, die im Ruhrgebiet begann. Seine einzigartige Ausstellung „Identity – Landscape Europe“, die in Kooperation mit der Stiftung für Kunst und Kultur e.V. Bonn umgesetzt wird, ist ab April in Budapest zu sehen und dient als Basis für den Austausch über die Partnerschaften und Beziehungen zwischen den genannten Regionen.

 
 
 
 
 
 

Einleitende Wort des Vorstandsvorsitzenden der Brost-Stiftung, Prof. Bodo Hombach

„Partnerschaft in schwierigen Zeiten? Ungarn, die EU und NRW“

Verehrte Damen und Herren,
begrüßen Sie mit mir seine Exzellenz, den Herrn Botschafter Dr. Peter Györkös,
Herrn Ministerpräsident a. D. Armin Laschet,
Frau Meret Baumann, Journalistin der qualitätsstarken Neuen Zürcher Zeitung,
den ungarisch-deutschen Musiker und erfolgreichen Musikproduzenten Leslie Mandoki
und Frau Susanna Zdrzalek, Reporterin für Tagesschau und Tagesthemen. Sie wird die kompetenten Gesprächspartner für uns moderieren.
Ich freue mich auch, Herrn Dr. Holthoff-Pförtner, Europa-Minister a.D., den Polizeipräsidenten, Herrn Stüwe, und den Vorsitzenden der RAG-Stiftung, Herrn Tönjes, unter anderem begrüßen zu können.
Ungarn, die EU und NRW
Partnerschaft in schwieriger Zeit.
„Die Tage haben unterschiedliche Namen. Die Nacht hat nur einen“, heißt es in den Tagebüchern von Elias Canetti. Der lebte wahrhaft in schwierigen Zeiten – als Jude sogar in tödlichen. Gleichwohl fand er: „Wen man einmal schlafen sah, den kann man nie mehr hassen.“ Oder: „Nach jedem Krieg sollten die Völker ihren Namen ändern. Irgendwer hat gesiegt, aber man weiß dann nicht mehr, wer.“ Canetti beweist: Gesellschaftlicher Ausgleich braucht künstlerische Impulse. Erst recht, wenn das diplomatische Handwerk Nachwuchspolitikern fremd ist.
Wir sind von der Nachkriegszeit in die Vorkriegszeit politisiert, gesendet und geschrieben worden. Jetzt braucht es Künstler, Schriftsteller, Denker, die das Wesentliche auf den Punkt bringen. Für die das Naheliegende und die eigene Weltsicht nicht der größtmögliche Horizont ist.

Solche haben soziale Fantasie. Gerade in einer verfahrenen Situation fragen sie: „Was ist eigentlich unser Ziel?“ Das therapiert Angstlust und hilft aus der Verfeindungsfalle. Politikern sollte man ins Stammbuch meißeln: „Nichts ist alternativlos“. Diplomaten wissen das, weil die es gelernt haben.
Denken darf nie ideologisch erstarren. Im Augenblick des Erstarrens verschwindet es. Ich stehe für eine Stiftung, die radikal pragmatisch ist. Sie ermutigt Neues und schafft Räume. Gerade wandert die Foto-Ausstellung „Identity – Landscape Europe“ des berühmten Musikers und Fotografen Till Brönner von Duisburg über Kattowitz nach Ungarn. Am Ende dieser Woche wird sie in Budapest im Museum Ludwig zu sehen sein. Damit ziehen wir eine bemerkenswerte politisch-geografische Kraftlinie.
Wer in Europa für bürgerliche Freiheit kämpfte, hatte den Freiheitsdrang der Ungarn oder auch Polen zum Vorbild und Partner. Freiheitsdrang statt Anpassungszwang – so wünsche ich mir auch mein Europa. Gewiss: Am Anfang ging es um Kohle und Stahl, um gemeinsamen Markt, um offene Grenzen. Aber immer geht es auch um Freiheit und Solidarität. Gegenwärtig geht es um den Erhalt einer regelbasierten Weltordnung.
Für Befürworter ist die EU nicht Endprodukt, sondern Werkzeug. Trägerwelle. Sie wird von den Mitgliedern und Regionen moduliert – von deren Individuellen Erfahrungen und Befindlichkeiten. Gleichschritt und Gleichschaltung sind der gemeinsame Feind. Bürokratische Regeln, die nicht dienen, dienen zu nichts. Auch, wenn es gelegentlich holpert und knirscht.
Die EU ist eines der großartigen Projekte unserer Geschichte. Es schützt uns nicht nur gegen äußere Bedrängnis. Es schütz vor den unverdauten Resten der eigenen Geschichte. Hoffentlich auch vor fanatischem „Waschzwang“ ideologisch-moraliner Welterlöser. Natürlich auch vor dem Rückfall in autokratische Sackgassen.
Nach tausendjährigem Gegeneinander zänkischer Völker fand sich ein Rahmen und Kraft zur Zusammenarbeit. Man musste aus vielen bunten Fäden einen gemeinsamen Teppich knüpfen. Man lernte sich kennen. Nicht mehr durch die Schießscharten der Vorurteile, sondern in Begegnungen. Aus Kriegen wurde Familienkrach.
Manchmal entsteht auch Zorn. – Papst Gregor der Große wusste schon im 7. Jahrhundert: „Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht.“ Heute weiß man: Diese Gemeinschaft ist mehr als die Summe ihrer Mitglieder. Ungarn ist viel mehr als Balaton, Czárdás und Gulasch.
Das ungarische Volk hat so gewählt, wie es unserer Regierung und anderen in der EU nicht gefällt. Zur nüchternen Einschätzung gehört aber ein Blick auf die Zahlen der letzten Woche. Nach dem Meinungsforschungsinstitut PolitPro würde die jetzige Regierungskoalition in Ungarn erneut mit 51,9 % ins Amt gewählt.
Die Fidesz wird von PolitPro aktuell bei 43,6 % gemessen. (Vor 14 Tagen: 45,1 %) Wenn heute EU-Wahl wäre, würde für Fidesz 46 % Zustimmung gemeldet. Bei uns hätten (nach der gleichen Quelle) die drei Parteien der Ampel, die gleichzeitig blinken, zusammen 35,5 %. An mehrheitlicher Zustimmung fehlt es den Regierenden in Ungarn erkennbar nicht.

Kluge Gesetze verpflichten eine Stiftung aus guten Gründen, es mit Parteilichkeit nicht zu übertreiben. Sie sollen und wollen dem Gemeinwohl und dem Gemeinnutz verpflichtet sein. Wir sind nicht auf Gesinnungsmission. Wir wollen verstehen und verstanden werden. Wir wollen Brücken erhalten und neue bauen. Erst recht, wenn Gräben vertieft wurden.
Die ungarische Regierung teilt nicht alle Feindbilder der Kommission und unserer Regierung. Möglicherweise teilen sie die doch, haben aber ein klassischeres Verständnis von Diplomatie. Sicher wissen das unsere großartigen Gäste genauer. Natürlich gibt es „den“ Ungarn so wenig wie „den“ Franzosen oder „den“ Deutschen.
Die Ungarn sind ein Volk, das seine Aufstände gegen beherrschende Mächte mit zelebrationsstarken Nationalfeiertagen würdigt. Der 20. August ist König Stephan – dem Heiligen – gewidmet. Er hat vor 1000 Jahren den christlichen Glauben im Land verankert. Er ist der wichtigste Schutzpatron der Ungarn. Seine Krone ist im Staatswappen.
Am 15. März wird der Stolz auf die 1848er Revolution demonstriert. Die wollte eine liberalere Herrschaftsform. Aus dem alliierten Wunsch, ein demokratisches Ungarn nach 1945 zu kreieren, wurde nichts. Kommunisten akzeptieren keine Wahlniederlage wie die im November 1945. Sie foulen nach bekanntem Muster.
Der jüngste ungarische Staatsfeiertag ist der 23. Oktober. Der würdigt den Volksaufstand von 1956. Hunderte Aufständische wurden durch kommunistische Besatzer hingerichtet, Zehntausende eingekerkert. Der Westen unterstützte die Aufständischen mit Worten. Kommunistische Sprachpolizisten ließen für den Aufstand bei Strafandrohung nur das Wort „Konterrevolution“ zu.
Am 19. August 1989 kam es zu einer Massenflucht von DDR-Bürgern über die ungarische Grenze. Drei Wochen später, um Mitternacht, öffnete Ungarn die Grenze für DDR-Flüchtlinge. 57.000 nutzten das für ihre Flucht in die Bundesrepublik. Diese Grenzöffnung war nicht nur für Ungarn und Deutschland, sondern für Europas Zukunft von unschätzbarer Bedeutung.
Als am 23. Oktober1989 die Republik Ungarn ausgerufen wurde, begann im Herbst der demokratische Frühling. Am 9. November fiel die Berliner Mauer. Bundeskanzler Helmut Kohl bekannte, „Ungarn hat den ersten Stein aus der Mauer gebrochen“. Nicht nur das nötigt uns Deutschen Respekt, Anerkennung und Dank für das ungarische Volk ab.
Die erste freie Parlamentswahl seit November 1945 fand am 25. März und 8. April 1990 in Ungarn statt. Also bald 35 Jahre demokratische Wahlen in Ungarn. In 12 Wochen übernimmt Ungarn den Europäischen Ratsvorsitz. Nach dem Prinzip der gleichberechtigten Rotation geschieht das drei Wochen nach der 10. Direktwahl des Europäischen Parlamentes.
Wir wünschen und hoffen, dass das für Ungarn und Europa erfolgreich sein wird.
In anderthalb Stunden werden wir klüger sein, als wir es jetzt sind. Deshalb vorauseilenden Dank an unsere wunderbaren Gäste. Ich schalte auf Empfang.