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Überall warten spannende Begegnungen

Überall warten spannende Begegnungen

Rund 100 Gäste waren am Dienstagabend im Essener Grillo-Theater dabei, als Ingo Schulze, Autor und ehemaliger Metropolenschreiber Ruhr, sein neues Buch über das Ruhrgebiet vorstellte

Er war gekommen, um zu schreiben. Und ging sechs Monate später mit einer bunten Tüte aus Eindrücken, Begegnungen und Biografien. Auf Einladung der Brost-Stiftung verbrachte der Berliner Schriftsteller Ingo Schulze von Oktober 2022 bis März 2023 ein halbes Jahr als Metropolenschreiber Ruhr im Ruhrgebiet. Nun ist sein Buch erschienen: „Zu Gast im Westen. Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“ vereint unterschiedliche Betrachtungen, Porträts und Reportagen, die vor allem eines zum Ausdruck bringen: Das Ruhrgebiet ist bunt. Und überall warten spannende Begegnungen.

Die erste Buchvorstellung fand am 12. März 2024 im Rahmen der DLF-Reihe „Lesart“ im Café Central im Grillo-Theater statt.

„Das Ruhrgebiet macht es einem leicht, ins Gespräch zu kommen“

Rund 100 Gäste erlebten live, wie Ingo Schulze in gemütlicher Kaffeehausatmosphäre über sein Buch plauderte. „Ich war der vielleicht planloseste Metropolenschreiber, den Mülheim je gesehen hat“, stieg er ins Gespräch ein. Eigentlich hatte er an seinem Roman weiterschreiben und parallel das Ruhrgebiet kennenlernen wollen. Doch ein halbes Jahr später war der Roman keine Zeile länger. „Ich war ständig unterwegs, eine Einladung folgte auf die nächste. Das Ruhrgebiet macht es einem leicht, ins Gespräch zu kommen. Die Menschen hier sind sehr kommunikativ, jeder hat eine Geschichte zu erzählen. Und man kann sich immer darauf verlassen, dass man als Gast willkommen ist.“

Auf seiner Erkundungsreise durch das Ruhrgebiet traf Ingo Schulze viele spannende Menschen und besuchte die verschiedensten Orte: Klassische Sehenswürdigkeiten wie die Philharmonie Essen, das Museum Folkwang oder die Villa Hügel. Ebenso aber auch unerwartete, weniger populäre Ziele, die dem Schriftsteller viel über die Mentalität, die Lebensweise und auch die Probleme der Ruhrgebietsmenschen verrieten. Zum Beispiel eine Kläranlage in Bottrop. Oder eine Grundschule in Duisburg-Marxloh, in der die Musik die Rolle der Sprache übernimmt, weil zu wenige Kinder Deutsch sprechen.

„Ein Schmelztiegel der Kulturen“

Und wie kommt man von A nach B? Natürlich mit der Bahn. „Diese vielen Bahnstrecken, das Hin- und Herfahren – das ist für mich das Ruhrgebiet. Da trifft man so unterschiedliche Menschen. Und schnell wird einem klar: Das Ruhrgebiet ist wahrhaft ein Schmelztiegel der Kulturen. Natürlich dissoziiert dieser Eindruck sofort, wenn man zum Beispiel die Philharmonie betritt.“

Doch auch Orte wie die Philharmonie regten Ingo Schulze zum Nachdenken und Weiter-Erkunden an. Auslöser war die Büste des Stifters Alfried Krupp im Foyer. Die meisten Konzertbesucher gehen einfach an ihr vorüber. Was steckt hinter der Geschichte der Firma Krupp? Warum ist sie für die Region so ungeheuer wichtig? Und werden die negativen Aspekte der Familiengeschichte deshalb so oft ausgeblendet?

„Je demonstrativer die Wertschätzung, umso misstrauischer darf man sein“, schreibt Ingo Schulze in seinem Werk. Das gilt seiner Ansicht nach für die Krupp-Geschichte ebenso wie für den im Ruhrgebiet vorherrschenden „Kult um die Malocher“: „Obwohl es sie kaum noch gibt, werden die Bergarbeiter heute mehr geehrt als früher. Könnte diese Wertschätzung ein Ausdruck des schlechtes Gewissens sein? Es wäre früher undenkbar gewesen, im Stadion das Steigerlied zu singen. Das war schließlich der Arbeitsalltag dieser Menschen. Auf keinen Fall hätten sie damit auch noch in ihrer Freizeit im Fußballstadion zu tun haben wollen.“

Doch natürlich fand Ingo Schulze auch viel Lob für seine Heimat auf Zeit: „Die Renaturierung der Emscher ist eine große Leistung! Dass diese Umstellung gelingt, von der stinkenden Köttelbecke [das Publikum half bei diesem Wort ein wenig mit] zum Erholungsgebiet, ist eine enorme Anstrengung des Gemeinwesens. Und die Ruhr rund um Kettwig war so idyllisch! Ich bildete mir ein, da wären Weinberge – oder zumindest müssten dort welche sein.“

Seine Zeit im Ruhrgebiet habe ihn verändert, so Ingo Schulze. Allem voran durch die vielen Begegnungen mit spannenden Menschen. Sei es im Fußballstadion, beim Spaziergang über den Kriegsgräberfriedhof oder beim ur-ruhrgebietstypischen Abend in der Trinkhalle.

„„Ich war jedes Mal erfreut darüber, wenn Ingo Schulze genau hingeguckt hat. Allein dafür brauchen wir Menschen von außen. Menschen, die mit einem frischen, unverstellten Blick auf Dinge gucken, die wir selbst schon gar nicht mehr wahrnehmen.““

— Jens Dirksen, Kulturchef der WAZ

Das Ruhrgebiet und die ostdeutsche Provinz – Soziologische Entdeckungsreisen in West und Ost

Neben Ingo Schulze und WAZ-Kulturchef Jens Dirksen waren beim „Lesart“-Abend die Autor*innen Uta Bretschneider und Jens Schöne mit auf dem Podium. Die Kulturwissenschaftlerin und der Historiker sprachen über ihr Buch „Provinzlust. Erotikshops in Ostdeutschland“. Was haben die beiden Bücher gemeinsam? Wie passen Porträts aus dem Ruhrgebiet und Sexshops aus Ostdeutschland zusammen? „Sie helfen, Land und Leute kennenzulernen und die jeweilige Region besser zu verstehen“, sagte dazu DLF-Moderator Christian Rabhansl. Und der Abend hat gezeigt: Teilweise sind Ost und West gedanklich gar nicht so weit voneinander entfernt.

Die Veranstaltung wurde aufgezeichnet und wird am kommenden Samstag, dem 16. März 2024, um 11:05 Uhr vom Deutschlandfunk Kultur gesendet. Hier geht es zur Sendung „Lesart“.

Das Buch „Zu Gast im Westen“ von Ingo Schulze ist am 28. Februar 2024 im Wallstein-Verlag erschienen. Nähere Informationen dazu finden Sie hier.