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Die besten Geschichten erzählt das Leben

Stürmischer Beifall nach lit.RUHR-Gala. Weil die Zuhörer auch in der eigenen Vergangenheit blättern durften

„Was für ein glückliches Leben ich hatte, ich wünschte nur, ich hätte es früher gemerkt.“ Die späte Erkenntnis der französischen Schriftstellerin, Varietékünstlerin und Journalistin Colette beschreibt die Stimmung in der vollbesetzten Essener Philharmonie ziemlich auf den Punkt genau. Mit minutenlangem Applaus verabschiedeten die mehr als 1000 Besucher der lit.RUHR-Gala 2019 die Künstler von der Bühne, die aus berühmten und persönlichen Biographien vorgetragen hatten – und die Menschen im Saal dabei gleichzeitig durch das eigene Leben führten. Dem doppeldeutigen Motto des Abends folgend: „Story of my life!“. Von Heinrich Heine, der in den „Schulerinnerungen“ aus seinem Roman „Mein Leben“ vor dem Kruzifix um göttlichen Beistand beim Erlernen unregelmäßiger Verben betet, bis hin zum Schriftsteller und Neurologen Oliver Sacks spannte sich der Bogen der Lebensbeichten. Letzterer zitiert im Essay „Dankbarkeit“ den eigenen Vater, der im Alter von 94 Jahren verstorben war: „Das Jahrzehnt zwischen 80 und 90 war das beste in meinem Leben.“
Eva Mattes liest Heine
Eva Mattes liest Heine
Das Beste an diesem eindringlich-unterhaltenden Abend im Alfried Krupp Saal war die Mischung der Künstler auf dem Podium, die perfekt das Konzept von Eva Schuderer umsetzten, „die Tücken der Kindheit, die Krisen der Jugend und das Dilemma der berüchtigten zweiten Lebenshälfte einzufangen“. Eva Mattes quälte sich mit Heine durch den Schulunterricht oder teilte Sheila Hetis tiefe Befriedigung beim Erlernen des Friseurberufs. Peter Kurth las aus den Kindheitserinnerungen von Amoz Oz und zog mit Joa¬chim Meyerhoff zum Schauspielstudium nach München. Saša Stanišic („Herkunft“), dessen erstes deutsches Wort nach eigenen Angaben „Lothar Matthäus“ war, erzählte komisch und dennoch bewegend, wie er sich mithilfe von Bruce- Willis-Filmen die neue Sprache aneignete.

Musik von Niedecken

Und mittendrin zupfte Wolfgang Niedecken an den emotionalen Saiten der Erinnerungen, am Piano meisterlich begleitet von Mike Herting. Die Texte erschlossen sich den Zuhörern zugegeben oft nur in Bruchstücken, wenn der kölsche Bob Dylan etwa stolz von seinen Wurzeln in der Kölner Südstadt sang: „He dat Leed ess für ming Ahne, minge Stamm, kölsche Seele allesamp. Für ming Lück, für ming Vertraute, blootsverwandt, ming Familisch, minge Clan. Mir sinn reinrassije Strooßekööter un Südstadt-Adel suwiesu. Un och wenn et keiner ussprich, insjeheim steht fest, dat Bloot decker als Wasser es!“ Angesichts der musikalischen Intensität des Duos stellten sich dennoch umjubelte Gänsehautmomente ein. Moderatorin Katty Salié half bei deren Vertiefung mit einer hochdeutschen Kurzfassung der Niedecken-Songs. Die war beim Lied „Absurdistan“ überflüssig, dessen Botschaft von der „globalen Geisterbahn“ jeder verstand. „Wir haben zu lange akzeptiert, dass man Fakten ignoriert“, jetzt helfe nur noch der in der Tradition katholischer Liturgie ausgestoßene Hilferuf „Kyrie Eleison“ – Herr erbarme dich (unseres Planeten). In diesem Moment ging der Blick aus dem kollektiven Familienalbum nach vorne in die Zukunft.
Katty Salié und Wolfgang Niedecken auf der lit.RUHR
Katty Salié und Wolfgang Niedecken auf der lit.RUHR

Weiser und faszinierender Abend

Die eigentliche Faszination des Abends bestand im (durchaus gewünschten) Effekt, dass jeder im Saal innerlich die künstlerischen Lebenserinnerungen mit den eigenen abglich. Und so in Gedanken sein eigenes Familienalbum aufschlug. Wer erinnert sich nicht an die Eselsbrücken und Merkhilfen aus der Schulzeit, wie sie Eva Mattes von Heinrich Heine vortrug: „4 von 3 geht nicht, da musst du einen borgen...“ Was fällt Ihnen aus Ihrem Leben ein, wenn Joachim Meyerhoff („Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“) beim Betreten der Schauspielschule von einem „morsche-Hängebrücke-Gefühl“ spricht? Oder wenn Annie Ernaux („Die Jahre“) jenes Lebensgefühl der 70er beschreibt, in denen die Gespräche rotweinschwanger zu den „sexuellen Vorlieben“ abdrifteten?

Gehören Sie zur Generation der männlichen Babyboomer – wie lang tragen Sie denn Ihre Haare (noch)? Und warum? Benjamin von Stuckrath-Barre, aus dessen Buch „Panikherz“ der Schauspieler Peter Kurth vorlas, hat darüber mit Thomas Gottschalk philosophiert. Der inzwischen herbstblonde Showmaster erinnert sich an den Ursprung der langen Matte als Zeichen des Protests. An Anfeindungen aus einer Gesellschaft, die jeden Langhaarigen als „Gammler“ verächtlich machte. Das äußere Zeichen des ersten Aufstandes gebe man nicht auf, so Gottschalk. „Haare ab ist wie Altenheim. Die Räumung der letzten Bastion schiebt man so lange wie möglich auf.“

Die Weisheit des Abends stammt vielleicht von Oliver Sacks, der zeitlebens der Zahl der Lebensjahre ein chemisches Element zuordnete („Mit 79 habe ich den Status Gold erreicht, jetzt geht es auf Quecksilber zu“). In Erinnerung an einen schweren Unfall in den Bergen, den er im Alter von 41 Jahren fast nicht überlebt hätte, sagte er kurz vor seinem Tod mit 82 Jahren:
„Es ist schön, dass ich nicht tot bin. Ich bin dankbar für so viele Dinge die ich erlebt habe. Und bedaure nur, dass ich soviel Zeit verschwendet habe und immer noch verschwende.“

Die insgesamt 76 Veranstaltungen der lit.RUHR (u.a. unterstützt von der Brost-Stiftung) gehen noch bis Sonntag, 13. Oktober.

Bilder: Copyright © plzzo.com / lit.RUHR