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„Über das Sterben zu reden hat noch niemanden umgebracht…“

Angeregt vom Leitsatz der Koordinierungsstelle für Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland haben wir die Ärztin Dr. Nicole Selbach und den früheren Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen Prof. Dr. Jürgen Rüttgers zu einem Gedankenaustausch eingeladen. Es wurde ein sehr lebendiges Gespräch über den Tod.

Wann sind Sie zuletzt dem Tod begegnet?

Nicole Selbach kann diese Frage ohne nachzudenken beantworten: „Heute Vormittag - ich komme gerade von der Arbeit.“ Als Sektionsleiterin Palliativmedizin am Universitätsklinikum Knappschaftskrankenhaus Bochum hat sie tagtäglich Menschen um sich, deren Leben sich dem Ende zuneigt. „Heute ist niemand verstorben, aber es ist eine Patientin dabei, sich auf den Weg zu machen, also in die Sterbephase zu gehen. Sie hat eine sehr hohe Symptomlast, Luftnot, viele Schmerzen und psychischen Leidensdruck. Es ist unsere Aufgabe, diese Symptome möglichst gut zu behandeln.“

Der kurze Einblick in ihren Alltag umreißt die Herausforderungen der Palliativmedizin, die die Trägerin des Brost-Ruhr Preises 2022 keineswegs als reine „Sterbemedizin“ betrachtet sehen will. „Wir bemühen uns schon sehr früh, die Behandlung schwerstkranker Menschen zu unterstützen. Es geht nicht um eine Begleitung in den Tod, sondern darum, im Idealfall Schmerzen und Beschwerden zu lindern, damit ein Patient das Krankenhaus verlassen und nach Hause zurückkehren kann.“

Prof. Dr. Jürgen Rüttgers hat so die letzte Lebensphase seines besten Freundes erlebt und begleitet. „Das ist jetzt etwas mehr als ein Jahr her. Er konnte die Klinik verlassen, wissend, dass die Krankheit nicht weg ist. Im Kreis von Frau, Sohn, Enkelkindern und Freunden hat er noch eine schöne Zeit erlebt, im Bewusstsein, dass es jetzt in Richtung Ende des Lebens geht.“ Bei den regelmäßigen Besuchen habe man nicht nur über Krankheiten geredet, „sondern über das Leben, über die Frage, was schön war, was auch vielleicht noch kommt. Natürlich wünschen wir uns alle, möglichst lange dabei zu sein.“

„Mit Sterbenden umzugehen, führt ja nicht dazu, dass man schneller stirbt. Sondern es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, das Sterben wieder mehr ins Leben zu integrieren. Und den Menschen dazu wieder die Kompetenz geben.“ - Dr. Nicole Selbach

Statistisch betrachtet werden die Perspektiven zur Erfüllung dieses Wunsches immer besser. Bei der Veröffentlichung der ersten allgemeinen Sterbetafel von 1871 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland für Männer 35,6 Jahre und für Frauen 38,5 Jahre. Nach den Ergebnissen 2019/2021 werden Männer 78,5 Jahre und Frauen 83,4 Jahre alt.

Selbach: „Gleichzeitig hat sich aber auch die Gesellschaft, vor allem die familiären Gefüge, verändert. Früher sind die Menschen in der Regel im häuslichen Umfeld verstorben, heute passiert das nur noch in 20 Prozent der Fälle. Obwohl sie sich in überwältigender Mehrheit etwas anderes wünschen, sterben 70-80 Prozent der Menschen heutzutage in Pflegeheimen oder im Krankenhaus.“ Als Folge sei viel Berührungsangst im Umgang mit Sterbenden entstanden, „die Probleme werden dann an der Tür des Krankenhauses oder Pflegeheims abgegeben“.

Beide Institutionen sind aber mit der Übernahme dieser gesellschaftlichen Verantwortung überfordert beziehungsweise stoßen an ihre Grenzen. Rüttgers: „Es gibt bundesweit rund 340 Palliativstationen, verteilt auf 3900 Kliniken. Dieses Angebot ist deutlich zu gering, vor dem Hintergrund dieser dramatischen Botschaft muss sich dringend etwas ändern.“

„Wir müssen in der Debatte deutlich machen, welche Angebote wir im Gesundheitswesen brauchen. Dann liegt es in der Verantwortung des Staates, die erforderlichen Strukturen auf der Grundlage gemeinsamer Werte zu schaffen.“ - Prof. Dr. Jürgen Rüttgers

In Altenheimen stelle sich die Situation ähnlich dar, einer wachsenden Zahl von pflegebedürftigen Menschen stünde immer weniger Pflegepersonal gegenüber. Mit ständig neuen Herausforderungen wie der steigenden Anzahl von Demenzpatienten. Rüttgers: „Ich hatte persönlich das große Glück, für meinen Vater nach mehreren Schlaganfällen eine sehr gute Pflegeeinrichtung zu finden. Mit einer Betreuerin, die ihm jeden Morgen mit einem Lächeln das Frühstück gebracht hat. Wenn man aktuell noch solche Angebote findet, kann man glücklich sein. Immer weniger Menschen können sich solche Pflegeeinrichtungen leisten.“ Trotz gestiegener Beiträge zur Pflegeversicherung:

Ab dem 1. Juli 2023 zahlen kinderlose Bürger vier Prozent des Bruttolohns, Eltern 3,4 Prozent.

„Wichtig ist, dass die Debatte um Pflege und Kosten wahrhaftig geführt wird“, so Rüttgers. Sowohl Pflegebedarf als auch Notstand im Personal seien ja längst erkannt, dennoch tauchten diese Stichworte in der aktuellen Diskussion um diverse Reformen im Gesundheitswesen kaum auf. „Ich halte es für sinnvoll, nicht nur Fachleute, sondern alle Institutionen einzubeziehen, die sich im Bereich Pflege sowie Sterbebegleitung engagieren. Dazu gehören auch ehrenamtliche Hospize.“ Gerade im ländlichen Raum könnten so Pflege- und Versorgungsetzwerke geschaffen werden, in die sich Kliniken einbeziehen ließen, die aktuell mangels Bedarfs von der Schließung bedroht sind. Die zentrale Zukunftsaufgabe sei, so Rüttgers: „Die Gesellschaft muss sich ändern!“

„Wir reden lieber darüber, wie wir die Natur noch ein wenig austricksen können, statt uns bewusst zu machen, dass das Leben dennoch zum Tod führen wird.“

Dr. Nicole Selbach

Dazu gehört für Nicole Selbach auch, selbstbestimmt das eigene Lebensende in Form einer Patientenverfügung zu gestalten. „Damit hätten wir in Coronazeiten möglicherweise viel Leid vermeiden können. So sind viele ältere Menschen einsam auf der Intensivstation gestorben. Aber es konnte sie ja niemand mehr fragen, angesichts der teils schweren Infekte mit akuter Luftnot.“ Sie plädiert dafür, in einer schriftlichen Verfügung die persönliche Lebensqualität zu definieren und daraus abgeleitet die medizinische Intervention zu begrenzen.

„Jeder Mensch kann klar sagen, wann er keine (intensiv-)medizinischen Maßnahmen mehr wünscht. Bedeutet Lebensqualität für den Betroffenen, noch essen und trinken sowie mit seinen Mitmenschen kommunizieren zu können? Oder soll bis zum letzten möglichen Atemzug auf der Intensivstation behandelt werden? Dies zu regeln bedeutet Autonomie.“ Dazu reicht das Ausfüllen entsprechender Vordrucke aus dem Internet häufig nicht aus, Selbach empfiehlt ein Gespräch mit dem Hausarzt und den nahen Angehörigen.

„Bei der Betrachtung des letzten Lebensabschnittes sollten wir auch die Frage der Beisetzung nicht ausblenden. Ein angemessener Abschied muss für alle Bürger finanzierbar sein.“

Prof. Dr. Jürgen Rüttgers

Wenn sich zunehmend die menschlichen Ressourcen erschöpfen, müssen dann Künstliche Intelligenz und Computer die Begleitung auf der Zielgeraden übernehmen?

„Ich finde, dass schon jetzt im digitalen Zeitalter immer mehr die Menschlichkeit verloren geht“, warnt Selbach. Und auch Prof. Dr. Jürgen Rüttgers hat eher düstere Assoziationen: „Ich habe bei einem Besuch in Japan erlebt, wie alte Menschen mit elektronisch betriebenen Kuscheltieren ruhiggestellt wurden. Die machten Geräusche und konnten mit den Augen rollen. Eine solche Entwicklung möchte ich bei uns nicht erleben“. Gleichwohl gäbe es in der täglichen Pflegeroutine Einsatzmöglichkeiten für Roboter oder Effizienzsteigernde KI. „Aber alles muss mit der Menschenwürde vereinbar sein.“

Aus dem erlebten Klinikalltag heraus verknüpft Dr. Nicole Selbach schließlich Frage und Forderung: „Wie wollen wir am Ende als Gesellschaft leben? Warum schaffen wir es nicht, den Pflegeberuf attraktiver zu machen? Die Medizin lebt im Kern von der Mann- und Frauenpower. Sie müssen alle mehr wertschätzen. Im Umgang mit Menschen brauchen wir immer Menschen!“