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Eine „kleine grüne Oase“ als zweites Zuhause

Wie tickt das Ruhrgebiet? Was ist so besonders am Pott und was bewegt die Menschen?

All diesen Fragen geht die Beteiligungsplattform „CheckPott“ auf den Grund. Das von der Brost-Akademie und Brost-Stiftung beauftragte Projekt ist eine Seite für alle, die den Ruhrpott mit anderen Augen betrachten und ganz neu kennenlernen möchten. Eine Plattform für alles, was im Pott für Diskussionen sorgt.

In dieser Serie präsentieren wir eine Auswahl an Beiträgen und aktueller Themen rund ums Revier. Heute:

Eine „kleine grüne Oase“ als zweites Zuhause

Im Grabeland in Oberhausen-Sterkrade verbringen rund 50 Anwohnende ihre Freizeit. Doch das kleine grüne Paradies soll dem Wohnungsbau zum Opfer fallen.

Heimat – das sind für viele Menschen im Ruhrgebiet nicht nur die eigenen vier Wände, sondern manchmal auch vier dunkelgrüne Metallzäune und die hellen Holzbalken der eigenen Laube. „Das hier ist mein zweites Zuhause“, sagt Sarina van de Logt und blickt sich in ihren knapp 600 Quadratmetern um. Der Garten ist weitläufig, der Frühling hat dem Rasen schon den ersten Wachstumsschub verpasst, an einem Fliederbaum weiter hinten auf dem Grundstück hängen zwei Schaukeln für die vierjährige Tochter Zoey. "Da haben meine Brüder und ich auch schon geschaukelt", erinnert sich die 33-Jährige. Kein piekfein getrimmter Garten erstreckt sich hier, zwischen manchem Stück Zaun bricht die Hecke aus Nachbars Garten durch. Es ist nicht unordentlich, aber gemütlich. „Nicht nur mir alleine geht es so. Fast allen, die hier einen Garten haben, bedeutet er alles.“

Rund 50 Gärten verstecken sich auf dem Gelände in Sterkrade

Sarina redet vom sogenannten Grabeland in Oberhausen-Sterkrade. Auf rund 30.000 Quadratmetern erstrecken sich hier mehr als 50 Gärten, durchschnittlich 600 Quadratmeter groß. Zwischen Wilhelm- und Steinbrinkstraße erstreckt sich die „Oase“, wie die Pächter das Gelände liebevoll nennen. Viele Gärten sind seit Jahrzehnten in Besitz, werden an die Kinder weitergegeben. Ein Garten als Erbe? „Ich habe in diesem Garten schon Laufen und das Radfahren gelernt und es ist einer meiner größten Wünsche, meine Tochter auch hier aufwachsen zu sehen, genau hier, wo wir leben“, erklärt Sarina. Viele Geburtstage, lange Grillpartys, Kinderfeten und faule Sommer-Sonntage hat die 33-Jährige seit ihrer frühesten Kindheit hier verbracht und verlebt.

„Besonders in der Corona-Krise haben wir im Sommer mehr oder weniger in diesem Garten gelebt. Kurz bevor alles geschlossen hat, konnten wir noch einen Sandkasten für Zoey ergattern. Ohne den Garten weiß ich nicht, wie wir durch diese Zeit gekommen wären. Hier konnten wir an der Luft sein und uns frei bewegen. Da hier viele Menschen einen Garten haben, die keinen Balkon, keinen Garten am Haus haben, war dies ein Stück Lebensfreiheit für unsere Familie. “ Die kleine Hütte, die im Gras steht, bietet ein Dach über dem Kopf, wenn es regnet, beherbergt ein paar Flaschen Sprudel und einige Tüten Süßigkeiten. Wenn die Sonne scheint und die bunten Lampions trifft, die in den Bäumen hängen, bekommt auch die größte Couchkartoffel das Gefühl, dass hier draußen in der Natur die Welt noch in Ordnung ist.

Kleingärtner in Oberhausen-Sterkrade sollen ihre Schrebergärten verlieren, die die 52 Familien teils seit Jahrzehnten gepachtet haben. An der Stelle der Gärten sollen neue Häuser gebaut werden. Foto: Fabian Strauch / FUNKE Foto Services GmbH

Lieblingsorte in ihrer Oase hat sie viele. "Neben dem Fliederbaum, der hier schon mein ganzes Leben steht, haben wir vor sechs Jahren einen Kirschblütenbaum eingepflanzt, den wir zur Hochzeit bekommen haben." Ein weiteres Herzstück: Der Pizzaofen, den ihr mittlerweile verstorbener Vater selbst gebaut hat. Hier und da bröckelt der Stein etwas, aber den Ofen zurückzulassen, wäre für Sarina ein herber Schlag. Generell ist sie froh über die Nachbarschaft, das lockere Miteinander, die gegenseitige Hilfe, wenn mal irgendwo Hammer oder Harke fehlt. „Wir sind hier wie eine große, bunte Familie. Hier leben verschiedenste Nationen friedlich miteinander und die Natur ist divers. Ich liebe es hier.“

Sarina und ihre Familie leben unweit von hier, sie übernahm den Garten vor einigen Jahren von ihren Eltern. Ihre Mutter arbeitet in einer Kita in Sterkrade, manchmal kommt sie mit einigen Kids in einem Bollerwagen angefahren und alle können im Garten spielen. Idylle – mitten im Ruhrgebiet. "Der Garten gehört wie kaum ein anderer Ort zu meiner Kindheit. Hier konnten wir frei spielen und Abenteuer erleben, ich habe hier in einem Zelt zum ersten Mal draußen übernachtet, als ich noch ein Kind war. Jedes Fest, bei dem das Wetter passte, fand hier statt. Sogar meine Kommunionsfotos haben wir im Garten gemacht. Dieses Fleckchen Erde ist fester Bestandteil meines Lebens."

Doch mittlerweile hat Sarina kein unbeschwertes Lächeln mehr auf dem Gesicht, wenn sie sich in ihrem kleinen grünen Herz umblickt. Je länger sie spricht, desto mehr spiegelt sich Trauer und Hilflosigkeit in ihren Augen. Denn die Oase soll sterben – zumindest teilweise. Das Gelände gehört der MAN GHH Immobilien, die jederzeit kündbare Pachtverträge mit den einzelnen Kleingärtnern geschlossen hat. Kein Verein steckt hinter der selbst ernannten Oase, sondern es sind viele einzelne Anwohner aus Sterkrade und Umgebung. Wenn es nach dem Eigentümer geht, soll das Gelände neu genutzt werden – die Gärten müssten dann verschwinden.

Bekannt geworden ist das bereits 2021. Seitdem ist viel passiert – und dann auch wieder nicht. Die Pläne der MAN GHH Immobilien GmbH, das Grabeland in Oberhausen-Sterkrade zu bebauen, haben hohe Wellen geschlagen. Geschäftsführer Rüdiger Stolz begleitet diese Idee bereits seit vielen Jahren. „Dieses Gelände ist eines von drei Flächen, die von der MAN zur Nutzung von Wohnraum vorgesehen sind“, erzählte er der WAZ im Mai 2021. Dass die Bürgerinitiative, die sich besonders aus den Kleingarten-Pächtern des Grabelandes zusammensetzt, diese Pläne ablehnt, konnte er damals verstehen. „Aber ich bitte auch um Akzeptanz unseres Standpunkts. Schließlich können wir diese Flächen nicht ewig quasi verschenken.“ Die Pacht belaufe sich lediglich auf vier Cent pro Quadratmeter im Jahr.

Ein erster Entwurf für das Gelände lag bereits vor. Dieser orientiert sich an einer früheren Idee, die bereits 1995 in einem damaligen städtebaulichen Wettbewerb der Stadt Oberhausen ausgearbeitet wurde. Lange Zeit hatte die MAN solche Pläne auf Eis gelegt. Erst seit 2015 ist die Idee wieder aufgenommen worden. Der jetzige Entwurf wurde 2016 von einem Raesfelder Planungsbüro erstellt. „Wir haben uns an dem Entwurf von 1995 orientiert“, erklärte Rüdiger Stolz damals das Vorgehen. „Es gibt dort viele Grünflächen, die auch für die Öffentlichkeit zur Verfügung stehen und einen verlängerten grünen Arm zum Volkspark bilden sollen.“

Das sei für die breite Öffentlichkeit vermutlich attraktiver als der jetzige Zustand des Geländes. „Jetzt ist der Weg durch die Anlage mehr oder weniger ein Trampelpfad, der teils zugewachsen ist“, meint der Geschäftsführer. „Das ist wenig attraktiv.“ Die Begrünung, die für das Gelände geplant wäre, sei großzügig und würde ein weiteres Naherholungsgebiet für alle Bürger bieten. „Für die Gewinnoptimierung ist das vielleicht nicht die klügste Bebauung, aber aus städtebaulicher Sicht genial.“

Doch was ist eigentlich Grabeland?

Als Grabeland bezeichnet das deutsche Bundeskleingartengesetz ein Grundstück, das vertraglich nur mit einjährigen Pflanzen bestellt werden darf. Grabeland ist kein Kleingarten im Sinne dieses Gesetzes. Grabeland ist ausschließlich hobbygärtnerisch genutztes Land, das von Gemeinden oder Firmen parzellenweise und befristet oft zur Zwischennutzung ausgegeben wird und gegen eine verhältnismäßig geringe Gebühr gepachtet werden kann.

Die Nutzung von Kleingartenanlagen ist dagegen auf unbestimmte Zeit angelegt. Verträge über Grabeland werden dagegen unmittelbar zwischen Grundstückseigentümer und Nutzer geschlossen und können jährlich gekündigt werden.

Vor solch einer Kündigung und damit auch dem Verlust ihres kleinen Stückchens Heimat stehen auch im Jahr 2023 noch immer knapp 50 Pächterinnen und Pächter in Oberhausen. Die Situation spitzte sich bereits 2021 zu, als die WAZ das Geschehen eng begleitete. Mehrere Pächter schlossen sich damals zusammen, gründeten die Bürgerinitiative „Grüne Lunge 3.1“, starteten eine Petition zum Erhalt der Grünfläche, sammelten Unterschriften online, an der Tür und auf dem Sterkrader Wochenmarkt.

Über 2000 Unterschriften kamen damals in Rekordzeit zusammen. Unterstützung kam auch aus der Lokalpolitik. Die Oberhausener Vertretungen von Nabu und dem Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) schalteten sich ebenfalls in die nun öffentliche Diskussion. „Hier ist ein vielfältiges Artenreich, das erhalten werden muss“, forderte BUND-Sprecherin Cornelia Schiemanowski in der WAZ. Fledermäuse, Bienen, Hühner hätten in den Gärten eine Heimat gefunden, auch das Pflanzenreich sei divers. „Gerade vor dem Hintergrund des Klimawandels gehören solche Flächen dringend erhalten, besonders, da es in Sterkrade sonst kaum noch Grünflächen gibt.“