Eine beunruhigende Meisterleistung
Essener Produktion „Die Wand (360°)“ beeindruckte Kritiker beim „Heidelberger Stückemarkt“
Es ist vergleichbar mit einem Ritterschlag oder der Wildcard für ein Grand-Slam-Tennisturnier: Thomas Krupas am Schauspiel Essen entstandener Virtual Reality-Film „Die Wand (360°)“ war im Rahmen der Kategorie „Netzmarkt“ zum diesjährigen „Heidelberger Stückemarkt“ eingeladen.
Das Festival präsentiert seit 1984 jährlich die Avantgarde des Theaters: Neue Stücke werden gelesen und hervorragende Uraufführungen aus dem deutschsprachigen Raum zu Gastspielen ausgewählt. Seit 2021 gibt es darüber hinaus die Sektion „Netzmarkt“, in der herausragende Arbeiten des digitalen und hybriden Theaters präsentiert werden. In diesem Jahr erhielt die von der Brost-Stiftung geförderte Produktion eine der begehrten Einladungen - und wurde von der Kritik positiv begleitet. „Krupas Projekt ist damit näher am Kino als am Theater“, so Falk Schreiber auf nachtkritik.de. „Was nichts an der Faszination des Abends ändert.“
Nach der 1963 erschienen Romanvorlage von Marlen Haushofers fährt eine namenlose Protagonistin (gespielt von Floriane Kleinpaß) mit einem befreundeten Paar (Stefan Migge und Sabine Osthoff) in die Berge. Abends geht das Paar noch auf ein Getränk ins Dorf, die Protagonistin bleibt allein zurück – um am nächsten Morgen festzustellen, dass sich eine unsichtbare Wand um die Ferienhütte herabgesenkt hat, alle Menschen und Tiere außerhalb sind anscheinend tot. Nach und nach beginnt sie, sich mit der Situation zu arrangieren, begleitet von einem Hund (Alexey Ekimov). Als ein zweiter Überlebender (Stefan Diekmann) überraschend auftaucht (und den Hund erschlägt), erschießt sie den Eindringling kurzerhand. Einsam wird sie nach und nach eins mit der Natur, um als Pflanze zu enden…
„Ganz nah an blutigen Verrichtungen“
Schreiber: „Das ist in der Ausstattung überzeugend (VR-Artist: Tobias Bieseke), es ist inhaltlich beunruhigend, und darstellerisch ist es eine Meisterleistung von Kleinpaß.“
Neben Krupas Filmprojekt wurden in diesem Jahr zwei weitere Produktionen gezeigt und damit laut Veranstalter „deren experimenteller Charakter, der Einsatz digitaler Tools sowie Innovation in Form und Erzählweise gewürdigt“. Als der Heidelberger Stückemarkt 2021 coronabedingt nur digital stattfinden konnte, wurde die Sektion Netzmarkt dem bisherigen Angebot hinzugefügt. Die durch die Pandemie geschlossenen Bühnen hatten auch die Essener Theatermacher seinerzeit zur Produktion digitaler Theaterstücke animiert.
Nach dem „Reichsbürger“, in dem noch klassische Bühne und virtuelle Elemente auf den Zuschauer einwirken, wird „Die Wand“ erst durch Anwendung einer VR-Brille und aufgesetztem Tonträger zum intensiven Erlebnis. Was auch Kritiker Falk Schreiber offensichtlich nahe ging: „Man ist auch ganz nah dran an blutigen Verrichtungen, die im alltäglichen Überlebenskampf so anfallen, etwa wenn ein entzündeter Zahn gezogen werden oder eine offene Wunde ohne Betäubung genäht werden muss."
Genau diese Nähe wollte Regisseur Thomas Krupa erreichen: „Mit den Mitteln der Virtual Reality entsteht ein sinnlich spürbares Erlebnis. Ich bin unmittelbar anwesend mit der Heldin hinter der gläsernen Wand. Ich kann jeden ihrer Schritte hautnah mitverfolgen und die Gedanken, die ihr dabei durch den Kopf schießen, mithören. Im besten Fall entsteht ein dreidimensionales Bild- und Klangerlebnis, in das ich komplett eintauchen kann.“