Zwischen Kläranlage und Orchestergraben
Im BrostCast erzählt Metropolenschreiber Ingo Schulze von seinen Erlebnissen, Eindrücken und neuen Bekanntschaften im Ruhrgebiet
„Wenn am Anfang feststeht, was am Ende rauskommen soll, brauchst du erst gar nicht anzufangen mit dem Schreiben.“
In einem fiktiven Dialog offenbart Ingo Schulze im Essayband „Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte…“ (s)ein Selbstverständnis des Schriftstellers. Aktuell sammelt der vielfach ausgezeichnete Autor als „Metropolenschreiber Ruhr“ auf Einladung der Brost-Stiftung im Ruhrgebiet Eindrücke für ein neues Werk. Eine durchaus gewünschte „Unternehmung mit offenem Ausgang“, wie er im Gespräch mit BrostCast-Gastgeber Hajo Schumacher ausführt.
„Ich werde irgendwie ständig weitergereicht“, erzählt der in Dresden geborene frühere Journalist. „Mich erreichen Mails, in denen Leute mich einladen. Das geht sogar soweit, dass mich ein netter Mensch spontan mitnehmen wollte ins Westfalenstadion zum Spiel Borussia Dortmund gegen Chelsea London…“ Für den Borussia-Fan ein Ereignis, bei dem Geburtstag und Weihnachten auf den sprichwörtlich gleichen Tag fielen – davon später mehr.
Zusammengehörigkeit und unsichtbare Grenzen
Schulze lässt sich gerne durchs Revier reichen, vom Musikunterricht in Marxloh bis zur Kläranlage in Bottrop, vom Orchestergraben der Essener Philharmonie bis zum Waldspaziergang nach Duisburg, oder eben vom BVB zu Rot-Weiß Essen. Letztere Einladung erfolgte übrigens durch den früheren Polizeipräsidenten von Essen und Mülheim, Frank Richter. „Dabei habe ich erfahren, dass er zusammen mit Prof. Bodo Hombach und der Brost-Akademie ein Buch über die Clankriminalität im Ruhrgebiet geschrieben hat“, berichtet Schulze. Aus der Vielzahl der persönlichen Begegnungen soll sich am Ende das Puzzle eines Erzählbandes zusammensetzen. „Ich versuche, kleine Porträts zu schreiben, mit dem naiven Blick von außen.“
Mit eben dieser Perspektive verknüpft und begründet die Brost-Stiftung das Projekt „Metropolenschreiber Ruhr“. Dem aufmerksamen Beobachter Schulze, dessen Stil Rezensenten gelegentlich als „mitleidlos genau“ beschreiben, erschließt sich ein Bild der Region, das von zahlreichen Klischees abweicht. „Die Menschen schauen zwar auf die eigene Stadt, als Außenstehender habe ich aber das Gefühl, als würden sie das Ruhrgebiet als etwas sehr Zusammengehöriges empfinden.“
Aber er empfindet auch unsichtbare Grenzen. Hören Sie einmal rein, wie Mülheim-Styrum durch eine Bahntrasse in zwei Welten geteilt wird. Und warum in Gelsenkirchen zwischen Angstgefühlen und bürgerlicher Sicherheit nur 300 Meter liegen…
Aufbau Ost war auch Aufbau West
Gleichwohl erlebt Schulze als passionierter Radfahrer auch „sehr viel Reichtum, wenn ich in Mülheim unterwegs bin. Auch in Duisburg-Rahm ist offensichtlich ein wohlhabender Mittelstad zu Hause.“ Der tatsächliche Reichtum der Region liege in ihrer „Diversität“ und „unendlichen kulturellen Vielfalt“. Wobei der Wahlberliner, ähnlich wie die erste Metropolenschreiberin Gila Lustiger, bestehende gesellschaftliche Klassenschranken erlebt. „In öffentlichen Verkehrsmitteln begegnet man der ganzen Welt, hier spürt man, wie die Einwanderung den Alltag der Menschen prägt. Im Folkwang-Museum ist von dieser Vielfalt wenig zu merken.“
Als Autor der „Simple Stories“ führt er im Dialog mit Schumacher aus, warum die Wiedervereinigung keine „einfache Geschichte“ ist. Und dass der „Aufbau Ost“ aus seiner Sicht gleichzeitig ein „Aufbau West“ war. Auch wenn viele unzufriedene Ruhrgebietsbürger das gelegentlich anders sehen würden. Überhaupt: Wenn Schulze König von Deutschland wäre, würde sich Einiges ändern! Hören Sie einmal rein, was er sofort umsetzen würde…
Im Herzen ein Dortmunder
Am Ende lässt uns der akribische Faktensammler ein wenig in sein Inneres schauen: Sein (Fußball-)Herz ist schon seit vielen Jahren mitten im Pott zuhause. „Es wanderte mit Matthias Sammer zu Borussia Dortmund. Ich war früher Fan von Dynamo Dresden, da passen sogar die Vereinsfarben.“ Namen wie Hitzfeld und Chapuisat sprudeln aus dem sonst sehr abwägend formulierenden Schulze heraus, er erinnert an den ersten Champions-League-Titel der Borussia 1997 gegen Juventus Turin „mit dem 3:1 durch Lars Ricken“. Fußball versteht er als die „große Parallelerzählung zum wirklichen Leben“, mit all seinen Möglichkeiten, kollektive Freude und Enttäuschung zu vermitteln.
Im Laufe des „Weitergereicht-Werdens“ habe ihm ein Bekannter auf der Fahrt über die A40 die besondere Erinnerung an Ruhrpott-Legende Helmut Rahn gezeigt. Auszüge aus der berühmten Zimmermann-Reportage des WM-Finales 1954, sieben Satzfetzen von „Sechs Minuten noch im Wankdorf-Stadion“ bis „Rahn schießt“ sind auf Autobahnbrücken verewigt. Wenn Sie erfahren wollen, wie Berthold Beitz die Fußball-WM 1974 bei der Neuordnung des Krupp-Konzerns genutzt hat und wo das Ruhrgebiet noch einen schriftstellerischen Weltmeister versteckt – den BrostCast finden Sie überall, wo es Podcasts gibt.