Immer noch

Immer noch
In beiden liegen Geschichten.
Die Stimme und der Fluss, sie erzählen vom Tod. Steger hat überlebt.
Das Geld verdient Steger im Sommer. Aber der Winter, das ist seine Zeit.
Im Winter bereitet Steger den Frühling vor, mit dem Pinsel in der Hand. Streicht die Stühle und die Wände. Die Toiletten und die Ruderboote. Im Winter werden die Farben für den Sommer gemischt.
Steger war Schreiner, Zimmermann bis zur Rente.
So leicht geht der Ofen nicht aus.
Und Steger erzählt. Seine Stimme füllt diesen Raum, auch sie scheint aus Metall, blechern.
Er könnte mit dieser Stimme Holzplanken schleifen, jede Geschichte winterfest machen.
Steger ist in diesem Haus aufgewachsen, als Kind schon über die Wiese gelaufen, in der Ruhr getaucht, gegen jede Warnung. Er ist am Platz die dritte Generation.
Es gibt nicht viele. Die wichtigste sorgt für Ruhe am Abend. Sorgt für einen erholsamen Schlaf auch bei offenem Fenster. Am Tage reißt Steger gern Witze, in der Nacht versteht er keinen Spaß.
Zehn Uhr, sagt er, Schnauze halten. Das heißt Fernseher aus, Radio aus. Wer sich daran nicht hält, kann packen. In Hattingen ist ein anderer Platz.
Aber wer sich benimmt, der kann bleiben. Gerne auch länger. Der kann hier jeden Sommer und auch den zweiten Frühling verbringen. Mit vielen Campern, sagt Steger, bin ich gemeinsam alt geworden. Gut gebräunte Antiquitäten, mit denen trinkt er noch einen, holt weiter aus, mit dem Schwung aus der Jugend. Manche kommen immer wieder, andere plötzlich nicht mehr.
Manchmal geht der Winter vorbei und hinterlässt eine leere Stelle. Ein Gast plötzlich fort.
Wie hatte der Assauer mal gesagt, wenn der Schnee schmilzt, sieht man, wo die Kacke liegt.

Aber irgendwann wächst auch darüber Gras, und Steger nimmt den Pinsel und malt über altes Holz. Erledigt, was noch zu tun ist. Vermietet die Stelle dann neu. Im Sommer ist es voll hier, die Leute dicht beieinander, da ist kaum Platz, schon gar nicht fürs Sentimentale. Acht Euro die Nacht für den Wagen, vier Euro die Nacht pro Person. Daran ist nicht zu rütteln.
Steger hält inne, lässt nun den Raum für sich sprechen. Die Wände, den Staub. Dort, zwischen alten Fotos von damals, Witten in Weimar, das Wasser bis zum Hals, hängt dann auch die Geschichte vom Tod. Die Familie, die einmal war. Ein Zeitungsartikel über den Fluss als Ursache.
Der Großvater, sagt Steger, der Bruder, der Vater, alle in der Ruhr ertrunken.
Der ältere Bruder 1943, im Hafen. Ein Kind noch. Steger hatte ihn früh überlebt.
Den Vater fand er Jahre später am Morgen. Herzanfall, sagten die Ärzte. Vielleicht auch ein Schlag auf den Kopf, er wurde 67 Jahre alt. Ich bin immer noch hier, sagt Steger.
Die Ruhr, in dieser Geschichte ist sie ein gieriger Fluss.
Er hat hier die wildesten Sachen erlebt. Einmal, lange her, kamen die Leute in Scharen, hatten Ferngläser dabei, starrten aufs Wasser. Suchten einen Delphin, tollkühne Flossen. Da, sagt Steger, war der Teufel los. Den Delphin hat es nie gegeben. Eine Erfindung der Zeitung, am 1. April.
Früher gab es noch Märchen am Fluss.
Früher, sagt Steger, gab es mehr Jungfrauen hier. Verstehst du? Er lacht, der Schalk im Nacken des Schalkers. Dann geht er nach draußen.
Der Winter ist nicht mehr als ein Schulterzucken.
Der Frühling beginnt, wenn die Radfahrer kommen.
Steger wird auf sie warten, vorne am Schlagbaum.
Mit seiner Stimme. Am Fluss.












Fotos: © Philipp Wente / www.philippwente.com