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Das Geheimnis der Seidenraupen

Nora Bossong, Per Leo und Wolfram Eilenberger lieferten auf der lit.RUHR einen launigen Beleg für die Erfolgsgeschichte des Metropolenschreiber-Projektes

Hätte nicht Wolfram Eilenberger diese schwierige Frage gestellt, sondern Günther Jauch beim bekannten Fernsehquiz, wäre die richtige Antwort sicherlich im sechsstelligen Bereich finanziell belohnt worden: „Welches Tier eignet sich besonders als Wappentier des Ruhrgebietes?“ – mit dieser Denksportaufgabe forderte der Bestsellerautor und frühere „Metropolenschreiber Ruhr“ im Rahmen der diesjährigen lit.RUHR seine Gesprächspartner auf der Bühne sowie die anwesenden Gäste in Halle 6 auf Zeche Zollverein. Die Schriftsteller Nora Bossong und Per Leo hatten tatsächlich aus dem Gesprächskontext heraus eine passende Idee, auf die Sie (wetten, dass…?), nie gekommen wären: Es ist die Seidenraupe!

Aber der Reihe nach…

Unter dem Titel „Die Rückkehr des Ruhrgebietes“ diskutierten Bossong, Leo und Eilenberger am Sonntagabend über die „Neuerfindung einer Region“. Was alle drei verbindet: Sie sind oder waren „Metropolenschreiber Ruhr“. Auf Einladung der Brost-Stiftung leben und schreiben herausragende Autor:innen seit 2018 über die Region. In der siebten Auflage ist die „Lyrikerin, Romanautorin und hellwache Essayistin Nora Bossong“ (so das lit.RUHR-Programm) zu Gast. Sie traf Sonntagabend auf einen ihrer Vorgänger Per Leo, der seine Erfahrungen im Essayband „Noch nicht mehr: Die Zeit des Ruhrgebiets“ beschrieben hat. Durch die Diskussion führte der Philosoph und Schriftsteller Wolfram Eilenberger, dessen Metropolenschreiber-Bilanz „Das Ruhrgebiet. Versuch einer Liebeserklärung“ spannende Anstöße zur Standortbestimmung der Region geliefert hatte.

Ähnliche Debatten dürfte auch Bossong auslösen, die vor hat, ihre Beobachtungen und Erkenntnisse in einem Theaterstück zu verarbeiten. In dessen Mittelpunkt: die Seidenraupe!?

„Bei meinen Recherchen bin ich darauf gestoßen, dass im Jahr 1936 unter großer Anteilnahme von Behörden und Bevölkerung, in Gelsenkirchen eine Seidenraupenzucht gegründet wurde“, erzählt die vielfach ausgezeichnete Autorin. Was zunächst abwegig klingt, bekommt vor dem Hintergrund eines aufziehenden Krieges Sinn: Die Raupen sollten die Seide für Fallschirme spinnen. Damit werden sie auf unerwartete Weise zu einem Symbol des Ruhrgebietes in seiner wirtschaftlichen Hochzeit als Waffenschmiede des Reiches.

Als Historiker verglich Per Leo die Entdeckung Bossongs mit dem Fund eines Goldgräbers, die Symbolik der Seidenraupe lasse sich laut Eilenberger auf das Wesen des Ruhrgebietes in Gänze übertragen. Im Prozess ihrer Transformation zum Schmetterling entstehen die Seidenfäden, die für die Fallschirmproduktion ausgebeutet werden. So wie die im natürlichen Kreislauf entstandene Kohle durch menschlichen Raubbau und Verbrennung zum Energieträger für Schwerindustrie und Wohlstand wurde.

Im Mittelpunkt von Per Leos gerade erschienenem Buchessay steht ein weiteres Schlüsseljahr für die Region. „Als 1978 die Montanindustrie im Sterben lag, brachte ein historisch interessiertes Netzwerk in Essen die Zeiten zum Tanzen“, heißt es in der Einführung zum lit.RUHR-Abend. „Das Beispiel zeigt auch, wo die Zukunft des Ruhrgebiets liegt: nicht in den visionären Entwürfen einer »Modellregion«, sondern im lokalen Gelingen. Das Echo von Essen ist heute im ganzen Emscher-Park zu hören. Und besonders deutlich in Gelsenkirchen!“

 „In dem zerklüfteten Ballungsraum, der sich hier jetzt auftut und bis ins Rheinland erstreckt, ist man nämlich alles Mögliche – gradlinig und schräg, herzlich und herzschwach, positiv bekloppt und negativ bescheuert, nur eines sicher nicht: heiter und gelassen selbstbewusst.“

Aus dem Prolog zu Per Leos Buch „NOCH NICHT MEHR“ – Zeit des Ruhrgebiets

Metropolenschreiber Nummer sechs zitiert am Ende eines launigen Diskussionsabends aus dem „Epilog“ seines Buches, in dem er die Begegnung mit Olivier Kruschinski, Vorstandsvorsitzender der „Stiftung Schalker Markt“, in Gelsenkirchen beschreibt. Kruschinski räumt im Gespräch mit allerlei Mythen und Legenden auf, die den Weg von Ort und Fußballverein in eine bessere Zukunft verstellten. Und erklärt dabei die unausgesprochene Vereinbarung zwischen Kumpeln und Kickern bei der Gründung des Vereins: „Schalke, das war mal ein Deal unter Bergarbeitern. Ihr trainiert, während wir malochen. Aber dafür beschenkt ihr uns am Wochenende mit Vergessen. Mit Schönheit. Mit Fußballkunst.“ Heute schwitzt niemand mehr im Schacht, die Profis auf dem Platz offensichtlich auch nicht, wie das 0:3 in Karlsruhe zeigt, das kurz vor Beginn der Veranstaltung bekannt wurde. Nur einer von vielen Aktualitätsbezügen in Per Leos lesenswerter Essaysammlung.

„Inzwischen ist es schon eine gute Tradition und ein Staffellauf exzellenter „Schreiber“, die sich als Gäste der Brost-Stiftung ins Revier locken ließen […] Das eindeutige Fazit bisher: Es lohnt sich, die alltäglich eigene Welt durch den Blick und das Temperament eines auswärtigen Betrachters zu erleben. Es justiert die eingeübten Maßstäbe. Es erweitert den Horizont.“

Professor Bodo Hombach, Vorstandsvorsitzender der Brost-Stiftung