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Reflexionen eines Metropolenschreibers im Dezember

Eine Beitragsreihe aus dem Herzen des Ruhrgebiets

Erfahrungen, die bleiben

Ende des Sommers habe ich eine recht herausfordernde Diagnose bekommen. Nachdem ich mich schon seit langem sehr erschöpft gefühlt hatte, empfahl mir eine Freundin einen Arzt, der auf Chronic-Fatigue-Zustände spezialisiert ist. Nach einer eingehenden Untersuchung und dem Einholen zahlreicher Laborwerte stellte dieser fest, dass ich Long Covid und die Symptome eines Burnouts habe. Im Vergleich zu Chronic-Fatigue-Fällen in meinem Freundinnen- und Bekanntenkreis hatte ich es mit einem eher milden Fall zu tun. Doch selbst dieser milde Fall sorgte dafür, dass ich im Gegensatz zu früher nur mit Mühe genug Energie aufbringen konnte, um meinen Alltag zu bestreiten.

Als ich vor zwei Monaten meinen Aufenthalt im Ruhrgebiet antrat, hoffte ich, dass gewissermaßen automatisch eine Entschleunigung meines Lebens eintreten würde, und in gewisser Hinsicht hat sich diese Hoffnung erfüllt. Meine Alltag hier läuft ruhiger ab als in Berlin. Ich habe weniger Termine und mehr Zeit für Spaziergänge und Yoga-Stunden. Doch durch die Brille meiner Mattheit stelle ich auch etwas anderes fest: Ich lebe in einer Region, die sich selbst in einer Art chronischem Erschöpfungszustand befindet. Damit meine ich nicht nur die buchstäbliche Erschöpfung der Erde, die ausgehöhlt wurde, unter dieser Ausbeutung immer noch zu ächzen scheint und an vielen Stellen nur mit mit großem technischen und finanziellen Aufwand davon abgehalten wird, in sich zusammenzustürzen. Ich meine auch das Leben an sich: den Zustand vieler Gebäude und Bahnhöfe, den nicht anders als desaströs zu bezeichnenden öffentlichen Nahverkehr, jene städtischen Gebiete, in denen man den Eindruck hat, dass es nur mit Mühe gelingt, die Zeit davon abzuhalten, dass sie sich nicht rückwärts dreht.

Natürlich befinden wir uns ganz allgemein – politisch, gesellschaftlich, kulturell und klimatisch – in einer überaus kräftezehrenden Situation. Ich kenne nur wenige Menschen, denen es zurzeit richtig gut geht. Vielleicht habe ich auch völlig unrecht und es ist nur meine Chronic Fatigue, die mich dazu bringt, hier im Ruhrgebiet so viel Erschöpfung zu sehen. Ich möchte keine Urteile aussprechen und erst recht keine solch pauschalen. Erst recht nicht, weil ich in dieser Region immer wieder auch auf überaus überraschende Inseln der Erholung treffe, die Vieles von diesem Eindruck wieder vergessen lassen.

Einige der schönsten Erfahrungen während der vergangenen Wochen etwa habe ich in den Museen, Musikstätten und Theaterhäusern der Region gemacht, bei der LitRuhr oder in der Philharmonie in Essen, in durch und durch strahlenden Kleinoden wie dem Museum Quadrat in Bottrop, den beeindruckenden Sammlungen des Museums Küppersmühle in Duisburg oder des Folkwang Museums und selbst in den kleineren Kunsthallen der Region, in Gelsenkirchen, Mülheim oder Recklinghausen. Hier habe ich Momente großer Ruhe und Momente ebenso großer Schönheit erlebt, berührende und meditative Stunden verbracht, und immer wieder das Gefühl bekommen, nachhaltig meinen Horizont zu erweitern. All das kommt mir geradezu unbezahlbar vor. Wie echte Medizin gegen meine Mattheit.

Für viele von uns geht gerade ein anstrengendes Jahr zu Ende. Und vielleicht ist es angesichts der Erschöpfung unseres Planten, unseres Landes, unserer Region oder unserer selbst wichtiger denn je, besonders schöne Erfahrungen zu machen. Erfahrungen, die uns wirklich nähren und uns auf authentische Weise bereichern. Ich habe die Vermutung, dass es diese Erfahrungen sein werden, die bleiben.