Abschied mit Wurzeln: Gedanken über das Bleiben und Weitergehen im Ruhrgebiet
Der letzte Beitrag unserer Metropolenschreiberin Eva von Redecker
Nun ist sie also vorbei, meine Zeit als Metropolschreiberin. Ich soll einen Abschiedstext schreiben. Ich muss gestehen, dass mir Abschiede nicht liegen. Wann ist man schon je fertig? In der Philosophie definitiv nie. Und in neun Monaten hat sicherlich noch niemand „alles“ über das Ruhrgebiet herausgefunden. Die Recherche wird sowieso weitergehen, zumal ich ja noch ein ganzes Werk zu schreiben habe auf Basis meiner Eindrücke.
Hätte ich das nicht lernen sollen, das Abschied-nehmen, vom Ruhrgebiet, das sich auf so einmalige Weise bemüht hat, würdig Abschied vom Bergbau zu nehmen? Aber ich konzentriere mich lieber auf die „Vorfluterverhältnisse“, darauf, dass der Abschied vom Bergbau andauert, dass jeden Tag knapp 850.000 Liter Wasser abzupumpen sind. Die Lösung dieser Aufgabe finde ich viel faszinierender als die musealisierten Zechentürme.
Aber schlecht „Auf Wiedersehen!“ sagen zu können, ist gar nicht das Schlimmste bei mir. Manchmal geht das viel weiter: dass ich einfach bleiben will. Ich hatte mir diesmal regelrecht vorgenommen, dem vorzubeugen. Ich bin ja auch ein Stück älter und örtlich verankerter als zum Beispiel bei den Tübingen- und Cambridge-Aufenthalten. Ich wollte nicht, dass es so geht wie in New York, dass ich mir einfach im Handumdrehen mein Leben nachbaue, in den mir eigentümlichen Mustern: ein Kollektivhaushalt, eine Affäre, eine Lieblingsphilosophin, ein Garten außerhalb der Stadt.
Na ja. Es ist mir halbwegs gelungen, das zu vermeiden. Aber ich kann mir doch ziemlich gut ausmalen, wie ich die Rollen besetzen würde. Was mir am Anfang vollkommen unvorstellbar schien – im Ruhrgebiet zu leben – steht mir jetzt ganz klar vor Augen. Um mit dem wichtigsten anzufangen, dem Garten: ich würde sofort in Günnemanns Kotten anfragen, ob ich dem Verein beitreten und beim Gemüseanbau helfen dürfte. Das Projekt, das ich auf einer Besichtigungstour der Förderlinie „Dritte Orte“ kennenlernte, zielt auf die Rettung eines über 300 Jahre alten Fachwerkhauses. Es steht an einem Bach in einer Senke in Witten (zum Glück laufen die Pumpen) und wird von einem vor über zwanzig Jahren gegründeten Verein denkmalgerecht saniert. Bei meinem Besuch führten mich zwei Vorstandsmitglieder herum. Mit dem unglaublich freundlichen Marc Junge fachsimpelte ich über Lehmputz und Dachgebälk. Aber besonders hingerissen war ich im allerersten Moment, als mir nämlich Henny Brink-Kloke noch vor ihren Mitstreier:innen die beiden schwedischen Blumenhühner namentlich vorstellte. Und dann der Garten. Ich habe noch nie auf 70 Bodenpunkten irgendwas angebaut, solche fette schwarze Erde sehe ich zuhause höchstens im überteuerten Sack Anzuchterde, nicht einfach im Beet. Ich wäre am liebsten einfach da geblieben.
Was die Philosophie angeht, würde ich meine Kolleginnen Eva Weiler von der Uni Duisburg Essen und Lea-Riccarda Prix von der Uni Dortmund dazu animieren, ein gemeinsames Forschungsprojekt anzugehen – oder erstmal einen sokratischen Stammtisch einzurichten.
A propos Stammtisch. Um den Titel der Lieblingskneipe konkurrieren das Oval Office in Bochum und das Lokal Harmonie in Duisburg.
Und mit wem ich weiter guten Weißwein trinken und – ganz abstrakt – über Verliebtheit und Neuanfänge fabulieren würde, dazu habe ich auch schon eine Idee.
Aber wie würde ich wohnen? Die Residenz in Mülheim-Speldorf ist ein ziemlich eigenwilliger Ort. Nicht leicht zu kollektivieren. Das Schlafzimmer ist eigentlich nur eine winzige Kajüte, dann gibt es noch eine Art Oberdeck mit einem weiteren Doppelbett. Vielleicht könnte ich mir einen lang gehegten Traum verwirklichen und mir selbst eine Pritsche in die Bibliothek stellen. Früher habe ich mir auf Rat meiner Mutter manchmal das Schulbuch unters Kopfkissen gelegt vor einer Klassenarbeit, angeblich sollte das helfen. Man stelle sich vor, eine ganze Bibliothek würde mir im Schlaf ihre Weisheit einflüstern. Dann wäre also Platz für insgesamt drei Parteien. Vielleicht keine Kommune, aber doch eine ordentliche WG. Und tatsächlich gibt es jede Menge Gemeinschaftsfläche. Die Doppelhaushälfte erschien mir von Anfang an wie ein gestrandetes Kreuzfahrtschiff in Miniatur. Es gibt diese runden Fensterfronten, nach vorn und hinten, die wirklich aussehen wie Bug und Heck. Und da alles mit weißem Marmor (oder etwas, das so tut als sei es Marmor?) ausgekleidet ist, böte das Wohnzimmer auch einen passablen Tanzboden. Einmal im Monat sollten wir eine Kapelle einladen – oder zumindest den Bruder von Herrn Gall, der auf der Gitarre Erwin-Weiß-Lieder nachspielen kann. Ich muss mal meinen Nachfolger fragen, ob ihn das stören würde. Er kriegt auch die Kajüte.