„Hamburg kann jeder, Ruhrgebiet muss man wollen“
Gerburg Jahnke schildert im Gespräch über „Kindheit und Jugend im Ruhrgebiet“, warum sie nie ein anderes Autokennzeichen als „OB“ wollte
Die Attraktivität der Veranstaltung war an dieser Stelle bereits vor Tagen mit einem Wort umfänglich beschrieben: ausgebucht! Alle, die bis dahin einen Platz ergattert hatten, erlebten Mittwoch den erwartet launigen Abend…
Peter Lohmeyer und Kabarettistin Gerburg Jahnke unterhielten sich mit Künstler Marcus Kiel über ihre „Kindheit und Jugend im Ruhrgebiet“. Passend zur Gästin hatte Kiel das überdimensionale Familienalbum im Hintergrund der Bühne neugestaltet: Dietmar Bär in Rockerjacke musste Jahnkes Schnappschuss, der Angela Merkels Jungendbildnissen verblüffend nahekommt, weichen.
„Die Fotos stammen, mit Ausnahme der beiden von Peter und Gerburg, aus rund 150 Fotoalben, die ich auf Flohmärkten erworben habe“, erzählt Kiel. „Es sind zufällig ausgewählte Bild-Stereotypen, die bestimmte Lebenssituationen abbilden. Ich könnte meine eigene Jugend auch mit diesen fremden Fotos nacherzählen.“
Analoge Kindheit mit Pansengeruch
Wenn Ruhrgebietskind Gerburg Jahnke aus ihrer frühen Jugend berichtet, riecht es zunächst einmal gar nicht nach Pütt. Sondern nach Pansen! „Wir hatten einen Dackel daheim, einen ziemlich dummen übrigens. Der bekam regelmäßig Pansen, der im Keller gekocht wurde. An diesen Tagen stank das ganze Haus – aber ich bin nicht deshalb Vegetarierin geworden.“
Die „glückliche analoge Kindheit“ in Oberhausen war geprägt vom Bergbau, genauer vom Schichtplan des Vaters. „Seid leise Kinder, Papa schläft, hieß es tagsüber während der Nachtschicht. Mein Vater bekam doppelt so viel Fleisch auf dem Teller, die Essenszeiten richteten sich ebenfalls nach dem Schichtplan.“
„Es gibt diese direkte Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, nicht mehr überall im Ruhrgebiet. Man muss sich schon um die Menschen bemühen, offen nach ihren Sorgen fragen. Ich hoffe aber, dass es einen Rest der Unter-Tage-Solidarität noch gibt.“
— Gerburg Jahnke
Jahnkes Vater brachte es zum Obersteiger, Opa war Hauer. „Wäre ich ein Junge geworden, wäre ich jetzt mit Staublunge in Rente.“ Eingefahren ist sie übrigens nur einmal, bei einer Zechentour gegen Ende des Ruhrbergbaus. „Es war furchtbar, obwohl die Gänge schon meterhoch waren. Ich musste daran denken, dass mein Großvater noch auf allen Vieren Kohle aus dem Flötz gehauen hat.“ Die Kabarettistin, Schauspielerin und Autorin erinnert sich noch sehr lebendig an die zahlreichen Grubenunglücke in ihrer Jugendzeit. „Damals wurde viel über heimkehrende Soldaten aus Vietnam gesprochen, die traumatisiert waren und psychologische Hilfe brauchten. Die hätte den Kumpeln, die unter Tage bei Unfällen ihre Kollegen und Freunde verloren hatten, auch gutgetan. Statt Bier trinken, Grillen und nicht drüber sprechen.“
Erinnerungsarbeit im Fanblock
Es gehört zum „Vor-Ort“-Konzept, dass Lohmeyer und Kiel junge Menschen aus der Region einladen, deren Engagement dem Ruhrgebiet hoffnungsvolle Impulse gibt. Diesmal kam Florian Kovatsch zu Wort, Sozialarbeiter im Fanprojekt des VfL Bochum. Bekennender Ruhri, zu seiner eigenen Überraschung: „In der Schulzeit habe ich gedacht, ich hätte mehr Flügel und weniger Wurzeln. Aber ich bin wohl ein Kind des Ruhrgebietes.“
Nach Sozialarbeit hat “Flo“ noch Kriminologie studiert, weil er „seinen“ Jugendlichen auch bei Begegnungen mit der Polizei helfen wollte. „Die Polizei verschafft sich sehr schnell Deutungshoheit, wenn man sich nicht auskennt“. Bemerkenswert ist vor allem sein Einsatz für Demokratie und gegen Rassismus. „Ich bin beim Fanprojekt Bochum verantwortlich für die Erinnerungsarbeit und erinnerungskulturelle Maßnahmen“, sagt Kovatsch, der für den von ihm mitgestalteten Stadtrundgang „1938, nur damit es jeder weiß.“ mit dem Julius-Hirsch-Preis ausgezeichnet wurde.
Mit Marcus Kiel arbeitet er jetzt im Umfeld des VfL-Stadions an einem Erinnerungsprojekt für Hakoah Bochum, 1938 letzter deutscher jüdischer Fußballmeister.
„Fußball hat für mich eine elementare Bedeutung, er ist für mich und viele andere Ruhrgebietsmenschen wirklich ein Stück Heimat.“
— Peter Lohmeyer
Während Lohmeyer in der Folge über seine neue Heimat Hamburg und als mögliche Alternative für sein Leben in der gerade geschlossenen dritten Ehe einen Bauernhof in Recklinghausen in Erwägung zog, legte sich Jahnke ganz klar für den Lebensabend fest. „Oberhausen ist eine totale Pissstadt, um so wichtiger, dass man dableibt.“ Tatsächlich hätte sie schon einmal über „Emigration“ an die Elbe nachgedacht, aber „Hamburg kann jeder, Ruhrgebiet musst du wollen.“
Die besondere Mischung aus abendlicher Gesprächsrunde mit einem kreativem Kunstprozess wird fortgesetzt. Wo steht noch nicht fest, gleichwohl das Wie: Kiel und Lohmeyer suchen für das Thema „Fußball im Ruhrgebiet“ wieder nach einem leerstehenden Ladenlokal in einer Ruhrgebietsstadt. Dem wollen die beiden, gemeinsam mit Ihnen, vorübergehend neues Leben einhauchen. Achten Sie auf unsere Programmvorschau – bevor wieder ausgebucht ist…
„Heimat ist nicht nur ein Geschenk. Jeder sollte etwas dazu beitragen, wenn die Dinge gerade nicht so laufen. Sich einmischen und auch Missstände benennen, aber immer konstruktiv.“
— Marcus Kiel