Erste Schritte als Metropolschreiberin
Eigentlich hatte ich mir sofort nach Ankunft das erste Stückchen Ruhrgebiet erlaufen wollen. Die Gegend um meine Wohnung, die Innenstadt, die Ruhr, die Randbezirke. Aber ich war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass sibirische Temperaturen herrschten. Es war so kalt, dass ich mich auch auf den notwendigsten Gängen fragte, ob ich vielleicht einfach zu einem Eiszapfen erstarren würde. Nicht nur waren minus fünf Grad, es wehte auch ein scharfer Wind. Trotzdem wunderte ich mich ein wenig, warum mir die Außenwelt dermaßen feindlich erschien. Das war doch wahrhaftig nicht mein erster Winterspaziergang. Irgendwann ging mir auf, dass es – meine Mutter hätte es gleich gewusst – an meiner Garderobe lag. Ich hatte meinen Wintermantel nämlich vor Ankunft in der Metropolregion noch stadtfein machen wollen, also in die Reinigung gegeben. Ich hatte sogar noch im Internet nachgeschaut, ob Freitag vor meinem Teilzeit-Umzug geöffnet wäre. Aber als ich dann vorm Laden stand, hing ein Zettel dran: „Geänderte Öffnungszeiten“. Das kommt häufig vor, ich hätte dem Internet nicht trauen sollen. Wo ich normalerweise wohne, leben pro Quadratkilometer dreißig Mal weniger Menschen als im Ruhrgebiet. Da lohnt es nicht, die Theke zu besetzen, nur weil eine ausnahmsweise ihren Mantel braucht.
So war ich also in einem sehr dünnen Übergangsjäckchen im eisigen Wind unterwegs. Und von den vielen Menschen, die im Ballungsraum – ein neues Wort, das ich im Ruhrgebiet lernte – lebten, war erstmal auch nicht viel zu sehen, nur die Häuserfassaden und parkenden Wagen. Eigentlich hat sich mir nur ein Bild eingeprägt von dem ersten Gang zum Einkaufen: ausgerechnet eine Brachfläche. Ich fühlte mich wie verschworen mit den Brombeeren, endlich ein Stück Wildnis, damit kannte ich mich aus. Die Bagger und der Bauzaun ließen aber keinen Zweifel: bald würde auch hier ein Haus mit gepflastertem Vorgarten entstehen.
Dreißig Mal so viele Menschen. Schauen Sie mal vom Text auf und stellen Sie sich die um sich herum im Raum vor. Im besten Fall ist da mit einem Mal eine gute Party. Das Ruhrgebiet selbst hat genau so einen Zustrom erlebt. Die Einwohnerzahl Bochums etwa verdreißigfachte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die Leute kamen nicht nur aus dem Umland, sondern aus ganz Deutschland und Polen, angezogen von einer versunkenen Moorlandschaft, die sich über Jahrmillionen, unter Luftabschluss verrottend und verdichtend, in Kohle verwandelt hatte. Oder andersrum: denn die Kohle lag da ja die ganze Zeit, dass die plötzlich anziehend wurde, lag daran, dass ungefähr zeitgleich zur Französischen Revolution nach einigem Stocken gelungen war, in Preußen endlich die von James Watt verbesserte Dampfmaschine nachzubauen. Ihre Kraftentfaltung konnte nach und nach in etliche Herstellungsprozesse und natürlich in den Eisenbahnantrieb eingespannt werden. Auch die Förderung der Kohle, die folglich überall gefragt war, wurde dank Hochdruck viel effektiver.
Nur wenige Tage nach meiner Antrittslesung hatte ich eine Buchpräsentation an der Uni Witten-Herdecke zugesagt – am Südrand des Ruhrgebiets, wo der Kohleabbau begann, weil die Flöze fast bis an die Erdoberfläche reichten. Nun war es der Streik, der meine Beweglichkeit einschränkte. So hatte ich das nicht gemeint mit meinem Lob der „Bleibefreiheit“. Natürlich bin ich für Streiks! Ich brach dann diesen allerdings doch, insofern meine sehr zuvorkommenden Gastgeber:innen mir anboten, mich mit dem Auto abzuholen. So saß ich also neben einer neuen Bekannten, einer Kuratorin und Kulturwissenschaftlerin, auf dem Beifahrersitz. Und mir wurde erst nach und nach klar, wie entgegenkommend dieser Fahrdienst war. Ich hatte gedacht, 38km könne man mal eben fahren, wie vom Dorf zum nächsten Fernbahnhof. Von wegen. Es war, als wären wir in einem Endlos-Loop von Autobahnauf- und abfahrten gefangen. Diese Kurven waren eigentlich die einzigen Strecken, wo es richtig voran ging, danach standen wir wieder im Stau.
Mir wird sowieso leicht schlecht im Auto, aber diese Mischung war fatal. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich irgendeine Tüte im Rucksack hatte – und was die freundliche Nachfrage meiner Fahrerin eben gewesen war. Während vor meinen Augen alles leicht verschwamm, ging mir plötzlich mit einer Klarheit wie nie zuvor auf, wie vollkommen albern das war mit meiner Vorstellung einer ökologischen Wende. Wo sollte man hier anfangen? Man kann sich ja nicht einfach die ganze Welt wegwünschen. Und so weit das Auge reichte bestand die Welt hier – die Welt zwischen Mülheim und Witten – aus nichts als Autos, Asphalt und Beton. Eins war auf das andere angewiesen, sie fügten sich ineinander, stockten, beschleunigten, ballten sich weiter.
Ein paar Tage später floss der Schienenverkehr wieder. Ich stand am Bahnsteig in Essen. Mir war nur ein bisschen kalt und überhaupt nicht schlecht, ich bestaunte gedankenverloren das Gewusel um mich herum. Die Leute, die nebeneinander auf der Bank saßen, redeten miteinander. Ein älterer Herr lächelte die Kinder an, die kreischend herumhüpften. Wie kann es sein, dass die Leute hier so nett sind, dachte ich. Oder kommen sie mir deshalb so besonders sympathisch vor, weil hier die Menschen das einzige Stück Natur sind, das übriggeblieben ist?
Ein Beitrag unserer aktuellen Metropolenschreiberin Ruhr Eva von Redecker.