Inspiriert vom Ruhrgebiet
Metropolenschreiberin Nora Bossong ist jetzt am perfekten Ort: Laut Expertenmeinung schreibt sie im Revier die besten Texte
Ihr Lyrikprofessor hat das Talent von Nora Bossong bereits frühzeitig erkannt. Folgt man seiner Einschätzung, dürfen sich alle Fans und Freunde der mehrfach ausgezeichneten Autorin auf die nächsten Werke freuen. „Er hat zu mir gesagt, ich solle häufiger ins Ruhrgebiet fahren. Dort würde ich meine besten Texte schreiben“, erzählt die neue Metropolenschreiberin Ruhr bei ihrer Antrittslesung. Seit vier Wochen lebt sie auf Einladung der Brost-Stiftung mitten in der angeblich so inspirierenden Region, von Mülheim (Stadtteil Broich) aus will Bossong die nächsten sieben Monate nutzen, um das Ruhrgebiet und seine Menschen „zu erschreiben“.
Zur persönlichen Vorstellung hatte die Trägerin des Thomas-Mann Preises 2020 das Wohnzimmer von Anneliese Brost in Essen-Bredeney gewählt, im Gespräch mit dem Dramaturg Alexander Weinstock (Theater an der Ruhr) berichtete sie, eingerahmt von prall gefüllten Bücherregalen der Stiftungsgründerin, von den ersten Erlebnissen in der vorübergehenden Wahlheimat.
Zwischen Krupp und Frotteehandtüchern
„Zunächst einmal hat der Taxifahrer das Haus nicht gefunden, es liegt in einer kleinen verkehrsberuhigten Straße. Für mich ist die Abgeschiedenheit völlig ungewohnt, in Berlin wohne ich direkt über meinem Lieblingsweinlokal.“ Ruhe und die Nähe zur Natur sind nicht frei von Schattenseiten: „Die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr ist nicht gerade perfekt. Ich habe erstmals den Wunsch, ein privates Auto zu nutzen, nachdem ich bisher nie eines besessen habe. In Berlin ist man mit Fahrrad, Bus oder Bahn deutlich schneller am Ziel als mit dem eigenen Pkw.“
Aus dem privaten Ambiente der mit zahlreichen Gästen gefüllten Brost-Villa drängte sich die räumliche Verbindung zu ihrem Roman „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ geradezu auf. „Die Ereignisse spielten in der unmittelbaren Nachbarschaft“, erklärt Nora Bossong vor der ersten Leseprobe. Ihr Roman „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ beschreibt Aufstieg und Fall einer Unternehmerdynastie aus dem Ruhrgebiet, sie liest vor, wie Textilunternehmer Justus Tietjen als Gründer unter anderem durch den Ersten Weltkrieg zu seinem Vermögen kommt – ausgerechnet mit Frotteehandtüchern…
Gelungene Verkehrsanbindung
„Es wäre ein anderer Roman geworden, würde er nicht im Ruhrgebiet spielen“, hat die aktuelle Metropolenschreiberin einmal gesagt. „Für meine Protagonisten, die Unternehmerfamilie Tietjen aus Essen, dienten die Krupps in vielen Punkten als Kontrastfolie. Bei den Tietjens geht es nicht um harten Kruppstahl, sondern um die Weichheit des Frottees – eine der diversen Anspielungen, die einen Unternehmermythos, wie es ihn bei Krupps gab, ad absurdum führen.“
Der „Tatort“ Essen ist nicht zufällig gewählt, sie hat selbst einige Zeit in der Region gelebt, hier regelmäßig ihren Vater besucht und pflegt viele Bekanntschaften. Im Rahmen der Reportage „Rotlicht“, aus der Bossong die zweite Leseprobe auswählte, hat sie einige Wochen in Dortmund verbracht und dort rund um den Straßenstrich recherchiert.
Warum wählte sie für dieses Thema die Form eines Sachbuches? „Prostitution ist keine Fiktion, sondern Lebensrealität. In Berlin ist das nächste Bordell näher als in Mülheim-Broich die nächste Bushaltestelle“, erklärt sie lächelnd. Und gibt in Bezug auf ihre Reportage mit feiner Ironie dem Begriff „Verkehrsanbindung“ eine doppelte Bedeutung: „Alle Wege führten zum Strich…“
Ruhrgebiet als Gedicht?
Bevor sie aus ihren Gedichten las, gab Nora Bossong noch ein paar Einblicke in den „spannenden“ Alltag der Schriftstellerin. „Ich stehe jeden Morgen um acht Uhr auf, setze mich mit viel Kaffee und Zucker an meinen Schreibtisch und arbeite konzentriert bis 12.00 Uhr. Das ist überall auf der Welt ein immer gleicher Ablauf.“ Ihre Figuren setzen sich zusammen aus einem Mosaik von Eigenschaften, die sie bei Menschen in den Alltagsbegegnungen beobachtet habe. Ihre Themen versucht sie hinter jenen Ecken zu finden, „auf die nicht jeder gekommen wäre“.
Ihre aktuelle Idee: Sie will in den nächsten Monaten die Ortsverbände der politischen Parteien im Ruhrgebiet besuchen. Um zu erkunden, wie sich Menschen Politik aneignen und umgekehrt. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Generation betrachtet Nora Bossong als Teil ihrer gesellschaftlichen Verantwortung als Schriftstellerin. Am Ende könnten aber Gedichte die literarische Form sein, in der sie ihre Zeit als Metropolenschreiberin bilanziert.
So wie im „Rattenfänger“, den sie aus ihrem Lyrikband zitierte. Das Gedicht hält eine nächtliche Begegnung unter einer Fußgängerbrücke in Rüttenscheid fest – und hat Bossongs Lyrikprofessor zum eingangs erwähnten Ratschlag motiviert…