Das Leben ist eins der Härtesten
Das weite Land, Barbara Frey, © Matthias Horn, Ruhrtriennale 2022
Packende Premiere der Ruhrtriennale von Artur Schnitzlers „Das weite Land“ bewegt Publikum und Kritiker gleichermaßen
26. August 2022
Es war kein Abend für zartbesaitete Romantiker: Bevor die ersten Schauspieler zu Wort kamen, erläuterte eine unsichtbare Stimme dem Publikum bei der Premiere der diesjährigen Ruhrtriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle detailliert, wie sich Insektenlarven und Käfertiere an erdbestatteten menschlichen Körpern zu schaffen machen…
Ein Prolog als Programm: Arthur Schnitzlers Drama „Das weite Land“ wird in der letzten Inszenierung von Intendantin Barbara Frey zu einer Art Leichenbeschau an Menschen im Zustand eines charakterlichen und moralischen Verfalls. Nicht wenige Zuschauer dürften sich gefühlt haben wie die Bühnenfigur Doktor Maurer (gespielt von Itay Tiran), der im Stück nur raus will, weg von diesen scheußlichen Menschen, die er als „trübselig“ und „grauenhaft“ bezeichnet.
Der Inhalt im Zeitraffer: Fabrikant Friedrich Hofreiter hat gerade eine Affäre beendet, ein Freund sich, mutmaßlich aus enttäuschter Liebe zu Hofreiters Frau, das Leben genommen. Friedrich zerstreut sich gleich in der nächsten Affäre, begleitet von Vorwürfen gegen Gattin Genia am Freitod des Freundes. Auf dem Höhepunkt tötet er deren jugendlichen Liebhaber im Duell. Am Ende steht die bittere Botschaft Hofreiters (glänzend dargestellt von Michael Maertens), die Toten hätten es gut - sie müssten nicht mehr leben. Eine bittere Botschaft…
…gleichwohl brillant gespielt vom Ensemble des Wiener Burgtheaters. „Ein Fest der Mimen! Das Premieren-Publikum in Bochums Jahrhunderthalle feiert die konzentrierte Inszenierung Das weite Land“ lobt die WAZ den Theaterabend.
Wo bleibt der Optimismus?
Arthur Schnitzler porträtiert, wie im Programm dargestellt, eine Gesellschaft, die ihren moralischen Kompass verloren hat. Intimität wird zur Handelsware, Liebe zum Konsumgut, jedes Gespräch ein argwöhnisches Aushorchen des Gegenübers. Der Spaß ist schon lange vorbei. Schnitzlers Figuren leiden – um es mit einer heutigen Diagnose zu attestieren – unter einer hedonistischen Depression.
Nicht ohne Neid hatte Sigmund Freud, Vater der Psychoanalyse und Zeitgenosse Schnitzlers, einst festgestellt, dass dessen präzise Dialoge leichtfüßig zum Vorschein bringen, was er selbst mühsam wissenschaftlich zu begründen versucht.
Richtig leichtfüßig wurde der Abend in der Jahrhunderthalle nicht. Wenn Humor zwischenzeitlich durchbrach, war er spröde, gallig, garstig. Der durchsichtige Vorhang auf der ansonsten nur mit einigen Sesseln ausgestatteten Bühne gab den Begegnungen der gebrochenen Menschen etwas Gespenstisches. Die Seele, die Schnitzler als jenes „weite Land“ begreift, scheint voller Abgründe. Für Optimismus bleibt am Ende wenig Raum.
Mit der Kernbotschaft der diesjährigen Ruhrtriennale, die auch von der Brost-Stiftung unterstützt wird, tun sich einige Kritiker schwer. „Die Ruhrtriennale war früher ein Ort der Utopien, der kraftvollen Gegenentwürfe“, schreibt Stefan Keim in der Welt. „In diesem Jahr suhlt sie sich im Siechen, zeigt mit großer Virtuosität die Hoffnungslosigkeit, gönnt sich höchstens einen kleinen, mühsam erarbeiteten Schimmer, dass es noch so etwas wie Leben geben könnte.“
Dagegen findet die Süddeutsche Zeitung (Alexander Menden), ehrlicher sei über Ehe nie gesprochen worden. „Als sich zum Schlussbild der Vorhang öffnet und der riesige Kopf einer Tunnelbohrmaschine zum Vorschein kommt, könnte das eine Öffnung der Gräber, einen Durchbruch in die Freiheit suggerieren. Aber auch die endgültige Zerstörung des Gewesenen. Die Erstarrung im Status quo, das Bemühen um menschliche Annäherung und das Minenfeld aus Aufrichtigkeit und Verschweigen, das die Ehe ist, wurden nie schärfer in Dialoge gefasst als in diesem Drama. Freys kongeniale Produktion zeigt, dass es, indem es sich weigert, eindeutige Antworten zu geben, in einer Welt des allgegenwärtig schnellen Urteils zeitgemäßer ist denn je“.