Großes Kino für Kopf und Seele
Dank VR-Brille wird das Theaterstück „Die Wand“ zum Gänsehaut-Erlebnis
14. September 2022
Für Menschen, die erste Erfahrungen mit einer VR-Brille machen, liefert das Schauspiel Essen einen schriftlichen Leitfaden zur Anwendung. Der wichtigste Hinweis darin: „Benutzen Sie bitte nach Möglichkeit einen drehbaren Stuhl, um den dreidimensionalen Raum der VR-Technik in Gänze wahrnehmen zu können.“ Ergänzend sollten die Macher des von der Brost-Stiftung geförderten Projektes „Die Wand (360 Grad)“ den Rat hinzufügen: „Vergessen Sie alles, was Sie bisher mit Theater in Verbindung gebracht haben!“
Mit Aufsetzen von Brille und Kopfhörer werden Sie aus Ihrer aktuellen Umgebung gerissen, Sie befinden sich plötzlich mit Schauspielerin Floriane Kleinpaß in einem aus hellem Holz getäfelten Raum und schauen durch bodenhohe Fenster in den Wald. Sie folgen automatisch den Geräuschen, suchen nach deren Ursache (dabei hilft der Drehstuhl!). Die Heldin hantiert an der Espressomaschine, Siri spielt auf Kommando klassische Musik ein. Idylle pur - die sich jedoch sehr schnell wandelt.
In der von Regisseur Thomas Krupa umgesetzten Romanvorlage „Die Wand“ von Marlen Haushofer wird ein Alptraum zur Realität: Die namenlose Heldin will am Waldrand nach ihrer Cousine und deren Man suchen, die am Vorabend ins benachbarte Dorf aufgebrochen waren, um ein paar Kleinigkeiten für den Aufenthalt in der behaglichen Jagdhütte zu besorgen. Auf einmal läuft sie gegen eine Wand. Mitten in der Landschaft – unsichtbar, undurchdringlich, endlos. Allein auf sich gestellt (nur Hund Luchs ist noch bei ihr) muss sie in der Natur des Waldes ums nackte Überleben kämpfen.
Das Medium selbst ist schon alt, VR-Brillen gibt es seit gut 40 Jahren. Bisher hat dieses Medium nur noch nicht Einzug in die Kunst gehalten, aber je mehr wir uns ihm anpassen, desto spannender wird es.
Intendant Christian Tombeil
Der Film lässt Sie daran hautnah teilhaben, mit Effekten, die in einigen Szenen an Actionkino made in Hollywood erinnern. Etwa wenn Kleinpass in Großaufnahme vor dem Spiegel versucht, sich mit Hilfe des Rasiermessers einen schmerzenden Zahn zu ziehen. Blut tropft auch, wenn sie, Rambo lässt grüßen, mit Nadel und Faden die tiefe Wunde im Bein traktiert, die sie sich beim Holzspalten mit der Axt zugezogen hat. Manchem empfindsamen Betrachter dürfte schon vom Zuschauen schwindelig werden.
Ein Tipp: Wenn es Ihnen zu heftig wird, Brille und Kopfhörer absetzen, durchatmen. Das Stück stoppt und läuft nach dem Aufsetzen weiter…
…und Sie erleben mit, wie die Natur das Haus überwuchert, sich die Großstadtfrau gleichzeitig zur archaischen Jägerin (zurück-)entwickelt. Zeit und Raum verschwimmen, der Wechsel in der Farbe des Laubes, Schnee oder das Summen eines Weihnachtsliedes lassen wechselnde Jahreszeiten vermuten. Mit der Natur außen verändert sich die Heldin, für den Zuschauer aus der Perspektive des Badspiegels erlebbar, mit dem sie häufiger spricht. Sie beschreibt Schönheit und Schrecken der ungezähmten Natur, erlebt Momente großer Traurigkeit und überraschender Zufriedenheit, empfindet Einsamkeit und Freiheit gleichermaßen.
Mit den Mitteln der Virtual Reality wird dies zu einem sinnlich spürbaren Erlebnis. Regisseur Thomas Krupa: „Ich bin unmittelbar anwesend mit der Heldin hinter der gläsernen Wand. Ich kann jeden ihrer Schritte hautnah mitverfolgen und die Gedanken, die ihr dabei durch den Kopf schießen, mithören. Im besten Fall entsteht ein dreidimensionales Bild- und Klangerlebnis, in das ich komplett eintauchen kann.“
Der Wechsel der Kameraperspektive holt den Betrachter ganz nah heran oder schiebt ihn als vermeintlich heimlichen Beobachter in den Hintergrund. Sie sehen jeden einzelnen Schweißtropfen in der Sommerhitze über das Gesicht rinnen. Oder schauen zwischen den Bäumen zu, wie die Heldin mit dem Stock eine Forelle aus dem Bach fischt und die Zähne hungrig in den zappelnden Fisch gräbt.
Krupa: „Sie entwickelt eine Wahrnehmung, die es ihr ermöglicht, immer mehr zum Bestandteil der sie umgebenden Welt zu werden. Am Ende mutiert die Frau zur Pflanze und wird zur Entdeckerin eines für sie bis dahin verborgenen symbiotischen Planeten.“ Haushofers Roman entstand 1963 in der aufgeregten Phase eines drohenden Atomkrieges, die Heldin symbolisiert eine letzte Überlebende ihrer Spezies, die sich ihren Platz in der umgebenden Natur neu erkämpfen muss.
Floriane Kleinpaß vermittelt diesen Kampf (technisch Unterstützt) mit wahnsinniger Intensität. Großes Kino – auch wenn dieses Kompliment für Theatermenschen noch befremdlich klingen sollte…