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„Lasst uns übers Sterben reden!“

Brost-Ruhr Preisträgerin Dr. Nicole Selbach regt zu einer intensiveren gesellschaftlichen Debatte über Leben und Tod an

29. Juli 2022

In diesem Jahr hat die Brost-Stiftung drei bemerkenswerte Frauen mit dem Brost-Ruhr Preis ausgezeichnet. Auf Zeche Zollverein wurden Dr. Marianne Kloke, Dr. rer. nat. Ferya Banaz-Yasar sowie Dr. Nicole Selbach im festlichen Rahmen für ihre „Verdienste um die Etablierung und besondere Ausgestaltung der Palliativmedizin im Ruhrgebiet“ geehrt. Erstmalig ist der Preis 2022 mit einer Summe von 25.000 Euro je Preisträgerin dotiert, jede Ausgezeichnete wird das Preisgeld an eine gemeinnützige Initiative ihrer Wahl weiterleiten. 

Im Rahmen einer persönlichen Vorstellungsreihe wollen wir Ihnen die herausragenden Expertinnen näherbringen. Mit dem Preisgeld will Dr. Selbach in einer Studie prüfen, ob die reduzierte Wirksamkeit bestimmter Opioide bei Patienten in stationärer Palliativbehandlung „auf verminderte CYP-Enzymaktivität und / oder ein verändertes Darm-Mikrobiom zurückzuführen“ ist.

Nicole Selbach: „Wir werden in einer Studie am Uniklinikum Bochum untersuchen, warum oral verabreichte Opiate nicht bei allen Patienten gegen Schmerzen wirken. Die entsprechenden Beobachtungen im Behandlungsalltag könnten damit zusammenhängen, dass zum Beispiel die Darmflora der Patienten durch laufende Chemotherapie geschädigt wurde.“

Sie haben bei der Preisvergabe als positive „Nebenwirkung“ beschrieben, dass dem Thema Palliativmedizin zusätzlich Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit gegeben wurde. Gab es entsprechende Reaktionen?

Selbach: „Gefühlt ja, ich bin von vielen Kollegen und Menschen in meinem Umfeld angesprochen worden. Sie haben mir von persönlichen Erlebnissen, aber auch Vorbehalten, erzählt. Ich hoffe, dass die Gleichsetzung von Palliativ- mit Sterbemedizin aus dem Denken verschwindet. Wir begleiten die Patienten ja nicht nur über Stunden und Tage, sehr oft können wir über Monate oder sogar Jahre Schmerzen nehmen und Lebensqualität steigern. Dabei ergänzen sich in multidisziplinären Teams unter anderem Ärzte, Seelsorger und Psychologen sowie Physiotherapeuten.“

Millionen Menschen leiden am Lebensende sinnlos

Wo bewegt sich etwas zum Positiven?

Selbach: „An der Uniklinik Düsseldorf haben sich kürzlich in einem Projekt Intensiv- und Palliativteams ausgetauscht. Dabei wurden die Vorbehalte deutlich, die selbst Intensivpatienten gegen Palliativmedizin haben. Diese reduzieren sich stark, wenn man, wie in Holland, die „Palliativteams“ in „Unterstützungsteams“ umbenennt.

In einem wegweisenden Positionspapier hat darüber hinaus die Lancet-Kommission aktuell belegt, dass unsere Grundkompetenz im Umgang mit Sterbenden verloren gegangen sei und dringend wiedergewonnen werden müsse. Das Ausschöpfen aller medizinischen Behandlungsmöglichkeiten könne im ungünstigen Fall Leiden verlängern. Vielmehr sollten, neben Schmerzlinderung, Gespräche über den Tod, das Sterben und die Trauer gefördert werden.“

Die international besetzte Kommission fordert im 48-seitigen Report, der im Januar 2022 veröffentlicht wurde, eine Neuausrichtung der gesellschaftlichen Einstellung zum Ende des Lebens. Der Tod und das Sterben seien an „Professionisten delegiert, medikalisiert und verdrängt“ worden. Konkret kritisiert das aus Gesundheits- und Sozialwissenschaftlern, Wirtschaftswissenschaftlern, Philosophen, Theologen, Politikwissenschaftlern und Patientenvertretern zusammengesetzte Gremium eine Überbetonung von aggressiven Behandlungen zur Lebensverlängerung, enorme globale Ungleichheiten beim Zugang zu Palliativversorgung sowie hohe medizinische Kosten am Lebensende. Dies würde dazu führen, dass weltweit Millionen von Menschen am Lebensende immer noch unnötig leiden.