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Zeitgeschichte aus dem Blick der Menschen

Foto: Per Leo, ©Alexa Geisthövel

Per Leo beschäftigt sich als neuer „Metropolenschreiber Ruhr“ mit Historikern der Uni Essen, die moderne Geschichtsforschung in Deutschland geprägt haben. Sie rückten Zeitzeugen in den Mittelpunkt

05. April 2022

Manche Menschen tragen ihre Ruhrgebietserinnerungen im Herzen, bei Per Leo (Jahrgang 1972) hat die Region den bislang nachhaltigsten Eindruck im Fuß hinterlassen. „Beim Besuch eines Freundes hatte ich die Laufschuhe vergessen, wir sind also barfuß durch die Grünanlage gejoggt“, erzählt der Autor und promovierte Historiker. „Dabei bin ich ganz klassisch in eine Glasscherbe getreten, seitdem kann ich den kleinen Zeh nur noch eingeschränkt bewegen.“

Auf Einladung der Brost-Stiftung ist er jüngst für ein halbes Jahr zu einem (möglichst schmerzfreien) Aufenthalt als neuer „Metropolenschreiber Ruhr“ zurückgekehrt. Mit Handgepäck zog er, aus Berlin kommend, in Mülheim ein. Frau und Tochter bleiben in der Hauptstadt zurück, „ich freue mich auf die regelmäßigen Besuche“ (Leo).

Nach dem mehrfach ausgezeichneten Roman „Flut und Boden“ sowie dem von ihm mitverfassten Buch „Mit Rechten reden“, das medial Aufsehen erregte, handelt der aktuelle Roman von Per Leo von einen betrügerischen Geigenhändler. „Ich recherchiere schon seit Jahren an dem authentischen Fall“, so Leo. „Nachdem zunächst ein erzählerisches Sachbuch geplant war, entsteht nun eine fiktive Geschichte.“ Bis zum Ende des Jahres soll das Buchmanuskript fertig werden.

Pläne als Metropolenschreiber Ruhr

Den Aufenthalt im Ruhrgebiet wird Per Leo im Wesentlichen einem Essay über die „Essener Schule“ widmen. Der Begriff beschreibt eine an der Universität Essen entwickelte Methode der Geschichtsforschung. Als Historiker und Hochschulprofessor beschäftigte sich Lutz Niethammer mit deutscher Zeitgeschichte auf der Grundlage der Befragung von Zeitzeugen. Dieser als „Oral History“ bezeichnete Forschungsansatz betrachtet Geschichtsschreibung primär aus dem Blickwinkel bestimmter Milieus. Natürlich werden auch Archivbestände und Alltagsaufzeichnungen in die Forschung einbezogen. Immer handelt es sich um eine Geschichte von unten.

Leo: „Ich möchte einigen Schülern von Niethammer nachspüren.“ Zu denen gehört etwa Detlev Peukert, Verfasser der Studie „Spuren des Widerstands. Die Bergarbeiterbewegung im Dritten Reich und im Exil“, die dem Ruhrgebiet erhebliche Aufmerksamkeit zuwendet.

Was können wir aus der Geschichte lernen?

Auf seinen ersten Erkundungsausflügen durch die Region ist dem bekennenden Fan von Werder-Bremen bereits die Dichte an historischen Orten in der Region bewusst geworden. „Bei meinem zweiten Spaziergang stand ich plötzlich vor dem ehemaligen Wedau-Stadion, das ja heute nicht mehr so heißt. Ich war schneller dort als in der Mülheimer Innenstadt. Beim MSV hat Werder Bremen übrigens 2006 als späterer Vizemeister noch 5:3 gewonnen…“

Während er den Fußball als „leidenschaftlich gelebtes Hobby“ bezeichnet, bestreitet Leo seinen Lebensunterhalt neben der Schriftstellerei als Schatullen-Produzent. Er handelt auf Wochenmärkten und online mit aufwändig gearbeiteten „Schatzkästlein“ aus poliertem Holz. „Die Entwürfe stammen von mir, ich lasse sie in Marokko herstellen. In Europa gibt es dieses Handwerk nicht mehr. Meine Kunden schätzen die Handwerkskunst und freuen sich, ihre wertvollen Alltagsgegenstände an einem angemessenen Ort aufbewahren zu können.“ Leo beschreibt den Handel als „Standbein“, welches ihm zusätzliche Bewegungsfreiheit für sein „Spielbein“ Literatur gebe.

Zeitnah wird der Metropolenschreiber sich um einen Besuch der Essener Synagoge bemühen, die den Nachlass des Historikers Michael Zimmermann aufbewahrt. „Er hat wegweisend zur Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus geforscht.“ Diese komplexe Form der Aufarbeitung historischer Ereignisse gewinnt gerade angesichts der Kriegsexzesse in der Ukraine eine beklemmende Aktualität.


Was macht eigentlich Raphaela Edelbauer?

Die Vorgängerin Leos als Metropolenschreiberin ist inzwischen nach Wien zurückgekehrt. Raphaela Edelbauer wird ihren Aufenthalt im Ruhrgebiet in Form eines Theaterstückes verarbeiten. In dessen Mittelpunkt steht Paul Reusch (1868 – 1956), Vorstand der Gutehoffnungshütte, als „Urtyp des herrischen Industriellen mit starken Aversionen gegen Gewerkschaften – ein junger Turbo-Ruhr-Kapitalist – stark und überaus opportunistisch in die Politik involviert“.

In zwei Akten beschreibt die Gewinnerin des Österreichischen Buchpreises den Aufstieg und Fall eines „Ruhrbarons“, der massiv von Adolf Hitlers Angriffskriegen profitierte. Edelbauer: „Ich glaube, dass mein Thema, neben der Relevanz für das Ruhrgebiet, nie aktueller war als jetzt: Welche Verantwortung für den Krieg trägt die Industrie? Was bedeutet medialer Opportunismus? Und wie stiehlt sich die Wirtschaft aus der Verantwortung für den Tod von Menschen?“