Vom Rang aus

Vom Rang aus
In Bochum ist der VfL zuhause. Castroper Straße.
In Bochum steht das Schauspielhaus. Königsallee.
Das Stadion und das Theater, dazwischen liegen drei Kilometer, dazwischen wabert das Selbstverständnis dieser Stadt, die Vergangenheit auch, bleischwer mitunter.
Im Theater konnte der Arbeiter einst am Abend den Bürger geben, im Sonntagsanzug, herausgeputzt, das war gut fürs Gefühl. Im Stadion kann der gute Bürger heute den Anstand abstreifen, 90 Minuten Schimpf und Schande, und hüpfen, bis ihm die Kräfte ausgehen, bis er verschwitzt zurück in den Schalensitz sinkt, das immer noch zweite Bier in zittrigen Händen.
Das Haus und der Verein, sie sind an Legenden nicht arm. Hinter ihnen liegen glänzende Zeiten. Das Stadion war mal Schmuckkästchen, das Theater galt einst als Edelstein. Man erinnert sich gern. Das Haus und der Verein, sie sind Nachbarn, aber sie begegnen sich selten.
Zeit also, dass sie mal wieder aufeinandertreffen, sich begegnen. Zeit, dass einer die kurze Distanz überwindet, und dem anderen bei der Arbeit zusieht. Deshalb also steht Johan Simons, der neue Intendant, an einem Dienstagabend in einem dumpfen Raum hinter der Bühne seines Theaters und macht sich bereit.
Es ist sein Antrittsbesuch, er kennt das Stadion nicht, nicht die Stimmung und nicht die Gesänge, die über die Tribünen schwappen, in den Nachmittag hinein, wenn in der Schlussphase doch noch was geht, Aufholjagdfieber, die Fanfaren dazu. Gesänge, gegen die Verzweiflung, gegen die Kälte. Die Häftlinge gegenüber, Krümmede 3, sind längst lippensynchron, kennen jede Strophe, können an der Lautstärke allein den Spielstand erkennen, alle zwei Wochen. Haftverschärfung.
Das alles kennt Simons nicht, er wird es erst heute erfahren. Er weiß um den Verein nur aus Erzählungen, aus der Zeitung, aus der Ferne. Drei Kilometer, aber mindestens eine Spielzeit weit weg.
Hier in der Intendanz steht noch ein Tannenbaum, in einer Ecke vergessen, als goldene Spitze trägt er einen Abdruck seiner rechten Hand, einem der Finger fehlen zwei Gelenke.
Johan Simons ballt eine unregelmäßige Faust. Er beherrscht die Bühne und ein Schweigen, mit dem er seine Gesprächspartner in die Enge oder in den Wahnsinn treiben kann. Johan Simons verliert nicht gerne, viele Worte schon gar nicht.
Reden wir also über Fußball.
Er strafft sich, Körperspannung.
Johan Simons ist Holländer, das muss man wissen, er konnte sich dem Spiel nie ganz entziehen. Er stammt aus einem Dorf in der Nähe von Rotterdam, er ist mit dem Vater ins Stadion gegangen, de Kuip, auf dem Platz Moulijn, Troost, Kuyt. Aber wenn die Jungs im Dorf auf dem Platz standen, war er der zwölfte Mann hinter dem Tor. Er hatte kein Talent, er musste die Bälle einsammeln. Er ist dann Tänzer geworden.
Aber, sagt er, ich liebe Fußball sehr. Jeder Holländer tut das, glaube ich.
Seinen Namen, sagt Simons, hat er nicht genannt. Jeder kannte ihn doch, Cruyff, das ist hängen geblieben, war einmal der Königin begegnet, ein offizieller Empfang. Da, sagt Simons, ist er einen Schritt zurück gegangen. Hat sie kommen lassen.
Um zu zeigen, wer hier der Größte ist.
Simons macht nun diesen Schritt, tanzt den Cruyff, König Johan.
Noch eine Stunde bis zum Anstoß.
Dann, plötzlich, steigt der Fußballautor Ben Redelings dazu, stellt sich neben Simons, stellt sich nicht vor. Einer kennt den anderen, einer den anderen nicht.
Nächste Station Ruhrstadion.
Er findet seinen Weg unter die Tribüne, es schallt bereits durch die Reihen, das Stadion dampft im Flutlicht, Simons bewegt sich im Schatten, geht an den Säulen vorbei. Darauf die Heiligen von einst. Gerland und Lameck, sie wurden auf den Beton gemalt, ganz so als müssten sie allein, blaue Schultern, das Stadion tragen. Als würde ohne die Geschichte hier einfach alles in sich zusammenfallen.
Simons kennt das, den fortwährenden Rückblick. Im Schauspielhaus hängen die Geister unter der Decke, als hätten sie sich zwischen den Scheinwerfern verfangen. Ein Flüstern, wenn die Leute draußen an der Geraderobe doch wieder von früher erzählen. Von Peymann und Zadek. Oder von Haußmann, bei dem die Fäuste geflogen sind. Geschwätzige Ahnen. Simons trägt sie mit Fassung. Ich, sagt er, mache mir hier keinen Druck wegen der Historie. Man muss es respektieren. Aber das waren andere Zeiten.


Und ein Funktionär stellt sich vor. Er möchte dem Intendanten gerne etwas sagen, drängt sich näher an die Tischplatte, Simons trinkt einen Schluck Wasser. Ich, sagt der Funktionär, habe immer versucht, die Leute hier zu duzen. Er lacht. Das, sagt er, gelingt mir nicht immer. Aber Ihr Theater duzt mich! Und Johan Simons trinkt Wasser.
Fußball und Theater, sagt er dann, das hat ja auch viele Gemeinsamkeiten. Man muss im Ensemble spielen. Und manchmal hat man auch Gegner.
Simons steht auf und geht nach draußen, noch zehn Minuten bis zum Anpfiff.
Er setzt sich, gute Plätze. Links die Bochumer, rechts die Mitgereisten, um ihn herum Prominenz, die ihm nichts sagt. Michael Meier sitzt dort, früher Manager in Dortmund. Michael Skibbe auch, früher Trainer in Dortmund. Sehr viel Vergangenheit, kleine Dramen auch.
Fußball, sagt er, ist immer Moment. Ein Übersteiger, eine Flanke, ein Tor. Aber Theater, selbst wenn es gut ist, kann immer nur so tun, als wäre es ein Moment.
Ein Fußballspiel, das hat der Dramatiker Moritz Rinke einmal gesagt, hat eben keine Generalprobe.
Der Schauspieler, sagt Simons, muss dem Zuschauer das Gefühl geben, zum ersten Mal zu spielen.Der Fußballer aber muss dem Publikum das Gefühl geben, jederzeit Herr der Lage zu sein, als hätte er genau diesen Zweikampf schon Dutzende Male geführt. Beides ist immer ein Kraftakt.
Und Johan Simons lässt das Spiel laufen, in der Halbzeit entwischt er den Funktionären, dann spricht er über die Zukunft, seine Erwartungen. Über die Fragen, die diese Stadt an ihn stellt.
Das Schauspielhaus, sagt Simons, muss von den Leuten wahrgenommen werden, und es muss den Leuten einen Sinn geben. Es gibt ja von ihm das schöne Zitat über den Arbeitslosen, der kämpfen wird, so lange auch das Schauspielhaus nicht aufgibt. Weiter, immer weiter. Ganz frei nach Oliver Kahn. Da wird das Schauspielhaus dann zum Zufluchtsort. Und Johan Simons gewährt Asyl.
Den Zusammenhalt, sagt er, den so ein Verein hat, den kann ein Schauspielhaus auch haben.

Dann schlägt der Torhüter des VfL dem Gegner den Ball vor die Füße und es fällt ein Tor, das sich nicht angekündigt hat, und es entsteht eine Spannung, kurz vor Schluss, die zwei Minuten zuvor undenkbar gewesen wäre. Theater ohne Generalprobe. Das Stadion dröhnt jetzt, ein Käfig wieder. Gegenüber können die Häftlinge jeden Zweikampf erahnen. Wilde Gesänge. Die für den Augenblick größte Bühne der Stadt.
Nächstes Mal dahin, sagt Simons und zeigt in die Kurve, in den Fanblock hinein.
Nächstes Mal bei den Fans. Näher dran an den Bochumern.
Fotos: © Philipp Wente / www.philippwente.com
