Stadtschreiberin stellt ihre Lieblingsautoren vor
Dabei enthüllt Gila Lustiger, dass Franzosen in der Liebe eher analytisch als sentimental zu Werke gehen
Was Gila Lustiger SCHREIBT, kennen viele tausend Menschen. Aber wer weiß schon, was sie LIEST? Neugier auf deren Lieblingsautoren füllte trotz frühlingshaften Grillwetters die Räume der Buchhandlung Proust mit Fans der Stadtschreiberin Ruhr. Die an diesem Abend ausdrücklich nicht über ihr Werk, sondern große französische Schriftsteller sprechen wollte, die sie bewegt, begeistert und geprägt haben.
Lustiger, seit über 30 Jahren in Paris zu Hause, begann mit einem Gedicht von Charles Baudelaire, das sie im Original vorlas. Für die Zuhörer ohne Französisch-Leistungskurs folgte eine deutsche Übersetzung von Stefan George. „Der Balkon“ ist die Ode an eine angebetete Herzdame, beschrieben als „Königin der Begehrten“ oder „Geliebte aller Geliebten“. Am Ende bleibt das angestrebte Glück freilich unvollkommen. Ähnlich wie in Guillaume Appollinaires Versen „Le Pont Mirabeau“, aus denen Lustiger später zitiert. „Alle französischen Schüler zwischen 14 und 15 Jahren müssen dieses Gedicht auswendig lernen“, erzählt sie lächelnd. „Dabei ist es in Wahrheit kein Liebesgedicht, sondern ein Liebeskummergedicht.“
Über die Lyrik taucht Lustiger (54) mit den Zuhörern in eins der grossen Themen der französischen Lyrik und Literatur ein – Liebe, die die Franzosen in all ihren Facetten ausleuchten, Erwartung, Wahn, Taumel, Begehren, Spannung Verschwinden der Liebe, Eifersucht... „Nicht nur in den Gedichten überwiegen die unglücklichen Liebesgeschichten. Mir ist das zuletzt auch wieder beim Hören französischer Chansons aufgefallen, Jeanne Moreau, Gainsbourg, Barbara, Jacques Brel ... Am schönsten besingen sie Liebeskummer.“
Mit der aus ihren Erzählungen bekannten Virtuosität kommt Lustiger im Plauderton von der Detailbeobachtung zum Grundsätzlichen. „Franzosen sind sinnlich, weil sie, ganz im Gegensatz zur geläufigen Meinung, nicht sentimental sind, sondern analytisch. Sie zergliedern, sie analysieren die Liebe, zu der nach ihrer Auffassung Kultur gehört. Also nach dem lateinischen Wort ‚cultura’, das ‚Pflege’ bedeutet. Kein Gefühlstaumel, sondern Regeln, Finesse und Wissen. Eindrucksvoll können Sie diese hohe Intellektualität auch im Louvre erkennen, wenn sie zum Beispiel die Aktgemälde des Venezianers Tizian mit dem Bild des französischen Malers Ingres vergleichen. Bei Tizian ist hingebungsvoll selbst die kleinste Hautfalte ausgemalt, der Betrachter hat das Gefühl, er könne beim Ertasten des Bildes den Frauenkörper wirklich berühren. Während ein paar Meter weiter Jean-Auguste-Dominique Ingres nicht die Frau, sondern ein Schönheitsideal auf die Leinwand bringt, eine idealisierte Frau, die er nicht weniger begehrt als die wirkliche, vielleicht sogar mehr. Die Haut des Aktes bei Ingres ist so ebenmässig, so glatt, nicht weniger sinnlich, aber eben irreal wie ein mit Fotoshop bearbeitetes Glanzfoto“.
Liebeskummer und schriftstellerisches Genie prägen den weiteren Verlauf des Abends. Lustiger liest aus Gustave Flauberts „Madame Bovary“, einem Stück Weltliteratur, in dem die Hauptfigur Emma ihrem langweiligen Alltag durch Seitensprünge zu entkommen sucht. Das „Sittenbild aus der Provinz“ endet im Selbstmord der Heldin, gramvollem Ableben des Ehemanns sowie Verelendung der Tochter. Menschliche Tragik, von Flaubert in einer neuartigen realitätsnahen Weise erzählt. Die Handlung hatte er übrigens einem Zeitungsbericht von 1848 aus dem Journal de Rouen entnommen, der über den Selbstmord der Arztgattin Delphine Delamare aus Ry bei Rouen berichtete...
Ehe Gila Lustiger zum Finale des Abends doch aus einem eigenen Essay liest, reiht sie noch George Perec und Anni Ernaux als Perlen auf die Kette ihrer Lieblingsautoren. Ersterer, als literarischer Wunderknabe und größter französischer Erzähler der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts gefeiert, schrieb mit Anton Voyls Fortgang (frz. „La Disparation“, das Verschwinden) einen Roman, in dem auf 350 Seiten der Buchstabe E nicht vorkommt! Bei der ebenfalls E-freien Übersetzung ins Deutsche klebte Eugen Hemlé auf die Letter E seiner Schreibmaschine aus Vorsicht eine Reißzwecke.
Mit Arnaux (77), deren überwiegend autobiographisches Werk von Kritikern mit Marcel Proust gleichgesetzt wird, schließt sich der Kreis von Darstellungen unglücklicher Liebesgeschichten. In Mémoire de fille (April 2016) erinnerte sie sich beispielsweise an den Sommer 1958, ihre erste sexuelle Erfahrung als 18-jährige in einer Ferienkolonie. Sie beschreibt dieses extrem brutale Erlebnis als „Erinnerung der Scham“.
Im kurzen Vortrag aus einem Beitrag für die Arte-Reihe „Karambolage“, der sich mit dem „Fremdsein“ auseinandersetzt, verweist Lustiger auf die politisch-gesellschaftliche Dimension von Literatur. Sie belegt, wie sich der Begriff „Fremder“ verschoben hat. War er in der romantischen Beschreibung oft ein von Sinnsuche getriebener, in die weite Welt verschlagener Abenteurer, so werde er heute immer häufiger auf das Synonym „Flüchtling“ reduziert. Lustiger: „Früher war der Fremde einer der auszog, heute ist er einer der ankommt, meist noch, wie der Soziologe Simmel so treffend sagt, einer der kommt, um zu bleiben.“
P.S. Unter denen, die bleiben, sind allein im Ruhrgebiet rund 10 bis 12.000 ohne Krankenversicherung. Sie werden von der Malteser Migrantenmedizin betreut. An die ehrenamtlich tätigen Ärzte ging der Erlös des ausverkauften Abends (8 Euro Eintritt).