„NOCH NICHT MEHR“ – Zeit des Ruhrgebiets
Das Buch des Metropolenschreibers Per Leo wurde am 12. Oktober in der Essener Proust-Buchhandlung der Öffentlichkeit präsentiert. Ab jetzt überall erhältlich
Einst Agrarwelt, dann Industriemoloch, heute dicht besiedelter Landschaftspark – kaum eine Region Europas hat sich in den letzten 150 Jahren so radikal verändert wie das Ruhrgebiet. Die notorische Frage, was seine Identität ausmacht, muss unter diesen Umständen ins Leere laufen. Außer man stellt sie selbst radikal. Per Leo versucht es und findet überraschende Antworten. Liegt der Schlüssel zum Ruhrgebiet womöglich in seinem Reichtum an Zeitbezügen, im endlosen Spiel zwischen dem, was nicht mehr, und dem, was noch nicht ist?
Der Vorstandsvorsitzende, Prof. Bodo Hombach, schreibt in seinem Vorwort dieses Buches:
Inzwischen ist es schon eine gute Tradition und ein Staffellauf exzellenter „Schreiber“, die sich als Gäste der Brots-Stiftung ins Revier locken ließen.
Jeder und jede fremdelte zunächst mit dieser Rolle.
Würde es vertane oder gewonnene Zeit?
Wie groß ist der Freiheitsraum für authentische Entdeckungen, kritische Wahrnehmung, Treue zur gewohnten literarischen Umgangsform?
Wie schmal ist der Grat zwischen Vorsatz und dem Einknicken vor der Realität?
Das eindeutige Fazit bisher: Es lohnt sich, die alltäglich eigene Welt durch den Blick und das Temperament eines auswärtigen Betrachters zu erleben.
Es justiert die eingeübten Maßstäbe.
Es erweitert den Horizont.
Herr Per Leo findet einen besonders originellen Zugang zur Ruhr-Region. Er schreibt ihr ins Gästebuch keine Floskeln und Sprüche, wie sie als „Versatzstücke“ im Regal der Ruhrpott-Klischees bereitliegen.
Für ihn ist der Lebensraum zwischen Ruhr und Emscher nicht das ewige Defizit, der „ausgekohlte“ Claim, wo die Hinterbliebenen einer wilden Epoche melancholisch verkatert eine nebulöse Zukunft beschwören.
Schon die ersten Sätze seines feinmaschigen Essays machen hellwach. Mit der Anreise aus Richtung Bielefeld – so formuliert er – „werden wir merken, wie sich allmählich das Glück verzieht. Als hätte der Himmel seine Stubenfenster aufgerissen, wird die Luft nun mit jeder Minute reiner, bis sie schließlich, kurz hinter Dortmund, ganz frei ist vom Feinstaub der Selbstzufriedenheit, von den Abgasen des Lokalstolzes, vom Smog des gemütlichen Eigensinns. In dem zerklüfteten Ballungsraum, der sich hier jetzt auftut und bis ins Rheinland erstreckt, ist man nämlich alles Mögliche – gradlinig und schräg, herzlich und herzschwach, positiv bekloppt und negativ bescheuert, nur eines sicher nicht: heiter und gelassen selbstbewusst. Hier wissen die Städte, wie sie heißen, aber nicht, wer sie sind. Zu unvollendet, um sich selbst in der Differenz zu finden, zu träge, um sich zur Megacity zu vereinen, hat keine von ihnen die Gravitationskraft eines Zentrums, während die geballte Saugkraft aller verhindert, dass irgendwo auch nur eine Mitte entsteht.“
Das ist nicht Schwäche, sondern Kraft. Es ist nicht nostalgische Erinnerung an eine Zeit, die es nie gab. Es ist im Gegenteil lebendige Modernität, anregend, aufrauend, nicht das Syndrom einer Identitätskrise, sondern ganz eigene Identität.
In einer solchen Region möchte man geboren sein. Hier findet jetzt schon statt, wovon die bräsigen Landschaften und zentralisierten Residenzstädte des übrigen Deutschlands noch träumen müssen. - Auf den Halden des Ruhr-Reviers stehen nicht die verblassenden Schriftzeichen eines „Menetekels“, sondern die selbstgewissen Chiffren eines überwundenen Wahns.
Per Leos Buch hat zwei Teile. Der erste kritisiert mutig die übliche Vogelperspektive. Das war immer der Versuch, „einen äußerst komplizierten Sozialraum in seiner Ganzheit zu erfassen“. Aber dieser Blick interessiert sich nicht für das „Geschehen am Boden“. Er arbeitete sich ab am Diskurs über das Ruhrgebiet und verfehlte so das Ruhrgebiet selbst. Es ging dann vor allem um „das Unfertige, Unscharfe und Unausgeglichene, das Paradoxe, Widersprüchliche und Absurde, das Rohe, Schmutzige und Düstere der Region“.
Im zweiten Teil sucht der Autor „am Boden nach verborgenen Schätzen. Hier besingen Froschchöre die Schönheit von Sumpfdiamanten, die nur im weichen Morast von Lippe, Ruhr und Emscher zur Härte reifen konnten, hier sammeln Bienenschwärme den köstlichen Nektar der Rostblumen, die in den verwaisten Erztaschen der Hütten und anderen Verstecken des Reviers auf Bestäubung warten.“
Ist Per Leos Buch ein imaginärer Reiseführer durch diesen „Narbenpark“ namens Ruhrgebiet? Ist es Sondierung, Feldstudie, Poem? – Das mögen Leser und Leserinnen entscheiden.
Ich meine: Für dieses Buch hat es sich gelohnt, ein paar Bäume zu fällen. Ein Dank an den Autor und ein besonderer Dank an jeden Ruhri, der es in die Hand nimmt und ihm Lebenszeit widmet. - Die ist gut angelegt.
Der Klappentext
Dieses Buch widmet sich dem Phänomen Ruhrgebiet in zwei Anläufen. Ausgehend vom Schlüsseljahr 1958, dem Beginn der Kohlekrise, befasst sich der Schriftsteller Per Leo zunächst mit Ruhrgebietstexten von Heinrich Böll, Joseph Roth, Erik Reger, Paul Berglar-Schröer, Wolfram Eilenberger u. a. Aus der Vogelperspektive, so zeigt sich, schwankte die Region immer schon zwischen unvollendetem Projekt und nostalgischer Sehnsucht. Doch aus der Innensicht ergibt sich ein differenzierteres Bild. Als Historiker nimmt Leo nämlich noch ein anderes Schlüsseljahr unter die Lupe – und rekonstruiert dabei die Geschichte eines Au\ruchs. Als 1978 die Montanindustrie im Sterben lag, brachte ein historisch interessiertes Netzwerk in Essen die Zeiten zum Tanzen. Das Beispiel zeigt auch, wo die Zukunft des Ruhrgebiets liegt: nicht in den visionären Entwürfen einer »Modellregion«, sondern im lokalen Gelingen. Das Echo von Essen ist heute im ganzen Ruhr-Emscher-Park zu hören. Und besonders deutlich in Gelsenkirchen!
Jetzt überall erhältlich!
Veranstaltungstipp
Die Rückkehr des Ruhrgebiets. Nora Bossong, Per Leo und Wolfram Eilenberger sprechen bei der lit.RUHR am 22. Oktober auf Zeche Zollverein über die Neuerfindung einer Region. Alle Informationen und Tickets dazu unter: https://www.lit.ruhr/de/programm/lit-ruhr/die-rueckkehr-des-ruhrgebiets-nora-bossong-per-leo-und-wolfram-eilenberger-ueber-die-neuerfindung-einer-region