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Das Ruhrgebiet: Ein Blick in die Seele einer zwiespältigen Region

Unsere aktuelle Metropolenschreiberin Nora Bossong erkundet die Identität und Charakteristika des Ruhrgebiets, indem sie die Mischung aus industrieller Geschichte, kultureller Vielfalt und persönlichen Erfahrungen reflektiert

Man muss die Wörter in der Tiefe suchen, die liegen hier nicht auf der Straße, es braucht Zeit, bis die Menschen erzählen, sagt mir ein Bekannter, der vor Jahrzehnten aus der Türkei ins Ruhrgebiet zog. Ich frage mich, was er über die Wörter in Norddeutschland sagen würde. Vielleicht, dass sie dort nicht mal in der Tiefe zu finden sind, und wenn, dann so spärlich, dass man es auch gleich lassen kann, nach ihnen zu suchen.

Mein Leben habe ich bisher vor allem im wortkargen Norddeutschland und dem raunzenden Berlin verbracht, in dem man lieber die Bustür vor der Nase zuknallen lässt, als eine Frotzelei zu verpassen, und mir kommt das Ruhrgebiet offen und freundlich vor. In der Stadtbibliothek staune ich jedes Mal, wie zuvorkommend und geradezu fürsorglich die Angestellten mir behilflich sind. Eine ähnliche Irritation kenne ich aus Köln, wo die Menschen auf der Straße mir zum Teil so hilfsbereit entgegenkamen, dass ich sie einfach missverstand. Die Ruhrpottler als Vorstufe des Rheinländers sozusagen? Damit wird man ihm natürlich nicht gerecht, aber was oder vielmehr wie ist er denn, der Ruhrpottler?

Anmaßend, behauptete ich, es nach ein paar Monaten beantworten zu können. Ich notiere: Ein Mischwesen aus Zugezogenem und Hiergewesenem, aus Arbeitsethos und Arbeitsermüdung, aus Bodenständigkeit und Orientierungslosigkeit, aus Traditionen und Umbrüchen. Ich komme nicht umhin, ihn mir noch mit Grubenlampe vorzustellen, trotzig und mit Ruß im Gesicht, eher Untertage als Untertan, obwohl diese Welt im ewigen Dunkel der Schächte aus dem Gebiet outgesourct wurde und die Kohle nun in Regionen der Welt gefördert wird, deren Bruttosozialprodukt noch schlechter ist als das von Gelsenkirchen. Die Zechen stehen in der Landschaft, gewaltiger als jedes Windrad, ein ausgelesenes Kapitel des Industriezeitalters, aufgereckt versuchen sie ihren eisernen Stolz zu bewahren.

Die Ruhr hinab ziehen Fische
vollgepackt mit Kohlen. An der Ruhr sitzen wir
und angeln schweigend
Ich sehe Fenster Kamine Blumen ich sehe
Kanister Steine Blumen

schrieb Nikolas Born über diese Gegend am Fluss Ruhr, die früher Ruhrland hieß und erst in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts den Namen Gebiet bekam, unpersönlich und kalt, wie auf einem Reißbrett entworfen, dabei bestimmt hier nicht der Schreibtisch, sondern die Grube, und es zeichnet, was unterirdisch ist, die oberirdischen Begebenheiten vor. Dort siedelt an, hier wird gebohrt, da produziert. Man folgte den tieferliegenden Rohrstoffen, den Ressourcen, und nahm, was an Himmel darüber hing, über Generationen so grau, dass nur der Persil dagegen ankam, aber Persil wusch bekanntlich sogar Nazis weiße Westen.

Der Himmel ist längst nicht mehr von Kohlestaub beherrscht, sondern wolkenverhangen im bundesdeutschen Durchschnitt, manchmal sogar blau, das Gebiet übersiedelt von Menschen, es wirkt auf mich nicht im Geringsten unpersönlich oder abstrakt, an manchen Stellen trist, ja, wie sollte es auch anders sein in Städten, die im Krieg zerstört wurden, weil von ihnen aus der Krieg seine Waffen bekam, und später das Geld zwar nicht überall fehlte, aber in der Fläche schon, sich also weite architektonische Sparprogramm neben Prachtvillen und Parks finden.

Gibt es das Ruhrgebiet überhaupt? Ich notiere: Rau und freundlich, grau und grün, arm und reich, und Kamp-Lintfort ist noch immer ohne Bahnanschluss. Angeblich gibt es an jedem Fleck des Ruhrgebiets ein Grundrauschen von irgendeiner der Autobahnen, ich aber höre es nicht überall, meine Ohren wohl schon abgestumpft von anderen Großstadtverkehrslagen. Ich notiere: Styrum, sanfte Autowäsche. Oberhausen Bahnhofstreff. Uhu über Broich. Auf die grauen Nachkriegsbauten und Autobahntrassen folgen Wald und Wiesen und ich denke bei Essen eher an Stadtwald und Grugapark als an Förderbänder und Ruß. Es ist nicht eine große Stadt, in der sich die einzelnen Ortsnamen wie Kieze über die Fläche verteilen und man abends vom Theater in Bochum, dem Hörsaal in Dortmund oder dem Baldeneysee in Essen schnell zurück zum Schlafplatz in Mülheim gondelt, diese Illusion habe ich verloren, als ich mit dem öffentlichen Nahverkehr pünktlich sein wollte und noch einmal, als ich an der Stadtgrenze die falsche Taxizentrale anrief, tut mir leid, wir dürfen Sie nicht abholen, auch wenn Sie zum Duisburger Innenhafen wollen, Sie rufen von der Mülheimer Seite aus an.

„Zwischenstadt“ nennt der Schriftsteller Jörg Albrecht diese Region in seinem Roman „Anarchie in Ruhrstadt“, und ja, das trifft es, ein Zwischenstand zwischen autonomen Gemeinden und Stadtwerdung, und man ist hier immer dazwischen, zwischen Essen und Dortmund oder zwischen Duisburg und Oberhausen oder zwischen Castrop und Rauxel. Eine Region kleiner Herzogtümer, die sich standhaft weigern, gegen das Interesse vieler ihrer Bewohner, wirklich zu einer Metropole zu verschmelzen. Ich notiere: Zwischenstadtschreiberin als Zwischenstand.