Mythen statt Erfolgsgeschichten
Im BrostCast verweist Metropolenschreiber Per Leo auf den falschen Stolz des Ruhrgebiets
19. Oktober 2022
Schon in den ersten Sätzen steckt gewaltig Zündstoff – Per Leo vergleicht Schalke und Borussia Dortmund! Zur Anmoderation des BrostCast (5. Folge der zweiten Staffel) sagt der aktuelle Metropolenschreiber Sätze, die manchen BVB-Fan ins Herz treffen werden: „Schalke ist so Ruhrgebiet! Anders als Borussia Dortmund. Was Du dort bekommst, kriegst Du auch bei Bayern München oder Manchester United. Wer zwischen Schalke und Dortmund eine kulturelle Parallelität herstellt, hat nichts kapiert!“
Im Verlauf des Gespräches mit Dr. Hajo Schumacher erläutert der Historiker und Schriftsteller Leo, warum er schon länger Kontakt zum BVB pflegt – aber Schalke seit seinem Aufenthalt im Ruhrgebiet irgendwie ins Herz geschlossen hat. Für die Fans von „Lüdenscheid Nord“ kein Grund zum Abschalten…
…denn Leo spannt einen großen Bogen über die Geschichte der Region und ihrer Menschen, die eine Menge Grund zum stolz sein haben. Und aufhören sollten „sich in den eigenen Mythen zu verstricken“.
Meilenstein in der Geschichtsforschung
Im Rahmen seines Metropolenschreiber-Projektes folgt Werder-Fan Per Leo den Spuren von Michael Zimmermann, einem 1951 in Mülheim geborenen Historiker, der durch zahlreiche Veröffentlichungen vor allem zum „Porajmos“, der Verfolgung von Roma als Zigeuner im Nationalsozialismus, hervorgetreten ist. Zimmermann gehört zu den herausragenden Vertretern der Essener Schule, die Geschichtsforschung primär auf der Grundlage von Befragung der Zeitzeugen betrieb („Oral History“). Leo: „Ich treffe im Ruhrgebiet und ganz Deutschland Menschen, die Kontakt zur Forschergruppe um Zimmermann hatten. Im Mittelpunkt eines Essaybandes, der im nächsten Jahr erscheinen soll, steht der Mensch Zimmermann. Und die Geschichte eines schon tragisch anmutenden Scheiterns des Projektes.“
„Oral History“ und die Essener Schule seien aber durchaus Erfolgsgeschichten, auf die das Ruhrgebiet stolz sein könne: „Hier wurde die Geschichtsforschung um ein ganz wichtiges Besteck bereichert.“
„Dortmund ist eine Fußball-Weltmarke“
Der unbelastete Blick zurück entlarvt aus Leos Sicht zum Beispiel viele „Malocherlegenden“. Kohleförderung im Ruhrgebiet habe nichts mit dem historischen Bergbau zu tun gehabt, bei dem horizontal durch eine Öffnung im Berg Rohstoffe abgebaut wurden, „wie wir das alle aus den Illustrationen des Märchens von den sieben Zwergen kennen“. Leo: „Im Steinkohlebergbau wurde hunderte Meter tief vertikal gebohrt. Nur modernste Technik verhinderte, dass die Schächte einstürzten oder die ganze Region in sich zusammensackte. Hauer war ein Hightech-Arbeitsplatz, es brauchte sehr viel mehr als nur Fleiß und Zusammenhalt.“
So wie sich sein Blick auf das Ruhrgebiet in vielen Gesprächen mit den Menschen vor Ort weitet, hätten Zimmermann und seine Kollegen versucht, aus dem „kommunikativen Gedächtnis“ der Sinti und Roma die Gräuel der Nazizeit zu dokumentieren. Hören Sie einmal rein, was diesen Weg aus Sicht von Per Leo grundsätzlich von Stephen Spielbergs filmischer Erinnerung unterscheidet.
Am Ende schließt sich der Kreis des Gesprächs wieder bei den Stichworten Dortmund und Schalke. Leo: „Dortmund ist im Fußball eine Weltmarke – Borussia vermittelt aber kein Ruhrgebiet.“ Den Versuch Schumachers, zwischen Gelsenkirchen als Stadt und Schalke als Verein zu differenzieren, kommentiert der Metropolenschreiber knapp: „Gelsenkirchen ist Schalke…“ Ein unterhaltsames Gespräch auch für Nicht-Fußballfans, das unter anderem eine interessante Parallelität zwischen Berlin und dem Ruhrgebiet als „Explosionsschönheiten“ entwickelt – überall, wo es Podcasts gibt!