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Sozial Schwache erkranken im Ruhrgebiet früher als im Rest des Landes

Aktuelle Studie im Auftrag der Brost-Stiftung belegt außerdem, dass sich zwei Drittel der befragten Patienten unzureichend vom Arzt behandelt fühlen

In einer mehrstufigen Studie zur „Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebenssituation junger und alter Menschen im Ruhrgebiet“ im Auftrag der Brost-Stiftung kommt die Bayreuther Akademie für Gesundheitswissenschaften e.V. zu dem Schluss, dass in der Region der sogenannte soziale Gradient deutlich ausgeprägter ist als im Rest des Landes. Menschen in der betroffenen Gruppe sozial Schwacher erkranken wesentlich häufiger an bestimmten Krankheiten!

Professor Eckhard Nagel fasst die von ihm geleitete Untersuchung wie folgt zusammen: „Unsere Untersuchungen belegen, dass es im Ruhrgebiet eine schlechtere gesundheitliche Versorgung für jüngere und ältere Menschen aus schwächeren sozialen Schichten gibt. Das äußert sich in der erhöhten Verbreitung bestimmter Krankheitsbilder sowie einer geringeren Inanspruchnahme bestimmter Gesundheitsleistungen.“ Weltweit durchgeführte Untersuchungen zeigten, dass ein heute geborenes Kind aus ärmeren Verhältnissen zwischen 10 und 15 Jahren früher stirbt als ein Altersgenosse aus sozial besser gestellten Verhältnissen. Dieser enge Zusammenhang zwischen sozialem Hintergrund und Erkrankung oder Sterberisiko macht den Experten auch mit Blick auf das Ruhrgebiet Sorgen.

Es zeige sich außerdem, dass sich viele dieser Menschen nicht angemessen beim Arzt versorgt und verstanden fühlen. Nagel: „Ein kommunikativ bedingtes Defizit, das man so noch nicht kannte“. Er spricht hier von „sozialer Diskriminierung“, fordert die Einführung von „Gesundheitslotsen“, die den Patienten vor Ort helfen, sich im Behandlungsangebot zu orientieren. Außerdem müsse Sozialkompetenz stärker in die ärztliche Ausbildung einfließen. Nagel weiter: „Wir müssen uns an einer Stelle im Gesundheitswesen vom Gleichheitsgrundsatz verabschieden. Auch in der Corona-Pandemie zeigt sich, dass unterprivilegierte Gruppen unserer Gesellschaft stärkere Zuwendung und Versorgung brauchen als andere Menschen in besseren Lebensumständen.“

Übergeordnetes Ziel müsse es sein „eine kommunale Gesundheitskompetenz zu etablieren, um die gegenwärtige Ungleichheit zu bekämpfen.“
Alles hängt mit allem zusammen. Wir sehen in der ganzen Welt: Wenn was zuviel wird, zu schnell geht und Ressourcen knapp sind, werden regelmäßig soziale Integrationsfähigkeit und -bereitschaft in bestehende Systeme überstresst. Die Integrationsoffenheit der Gesellschaft erodiert zusätzlich. Am Anfang der Verbesserung steht die nüchterne Beschreibung der Realität. Damit ist den Autoren ein wichtiger Anstoß gelungenProf. Bodo Hombach, Vorstandsvorsitzender Brost-Stiftung
Grundlage der Studie sind Daten des Robert-Koch-Institutes sowie ein Gutachten des IGES-Institutes Bonn, Interviews mit betroffenen Patienten und Experten der Kassenärztlichen Vereinigung, von Patientenverbänden und Gesundheitsämtern.

Armut und fehlende Bildung verkürzen das Leben deutlich


Professor Eckhard Nagel erklärt im Interview, wo und warum das Gesundheitssystem bei sozial schwachen Menschen versagt.

Sie haben die Lebenssituation jüngerer und älterer Menschen, sog. vulnerabler Gruppen, mit Blick auf deren Gesundheitsversorgung im Ruhrgebiet untersucht. Worin lag die Motivation dieser Studie und warum der Fokus auf das Ruhrgebiet?
Prof. Nagel: „Vor dem Hintergrund der zunehmenden sozialen Spreizung in der Gesellschaft, gewinnt auch die Frage, wie man sozialer Ungleichheit in der Gesundheit begegnen kann, immer mehr an Bedeutung. Das Ruhrgebiet ist insofern von großem Interesse, da kaum eine Region in Deutschland in den letzten Jahrzenten von so vielen strukturellen Veränderungen betroffen war, wie diese. Sie besitzt eine besondere Raum- und Sozialstruktur, welche sich in der Bevölkerung leider auch durch eine hohe Arbeitslosigkeit, ein geringeres Einkommen und einen niedrigeren Bildungsstand widerspiegelt. Gleichzeitig hat das Ruhrgebiet historisch eine Sonderrolle in der Bedarfsplanung der ambulanten (fach-)ärztlichen Versorgung inne. Dennoch stellen wir aktuell mit Blick auf die NRW-Krankheitsstatistik fest, dass in verschiedenen Bereichen die Krankheits- und Sterblichkeitsrate im Ruhrgebiet deutlich höher ist als im Rest des Landes. Diesen Sachverhalt wollten wir beleuchten.

Wie war die Studie aufgebaut und auf welcher Datengrundlage?
Nagel: „Wir sind auf unterschiedlichen Ebenen vorgegangen. Zum einen haben wir die Krankheitslast und die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen der Kinder- und Jugendlichen sowie älteren Menschen untersucht. Hierzu wurden Befragungsdaten des Robert Koch-Instituts ausgewertet und nach Sozialstatus differenziert (KiGGS Welle 2 2014-17 & GEDA 2014/2015-EHIS). Zum anderen haben wir diese Personengruppen zu ihren unerfüllten Behandlungswünschen interviewt. Begleitend wurden Gutachten zur gesundheitlichen Versorgungssituation im Ruhrgebiet (z.B. das IGES-Gutachten im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses) analysiert und Experten aus dem Gesundheitsbereich zur aktuellen Versorgung befragt. Auf Basis dieser verschiedenen Perspektiven ist es uns gelungen Handlungsempfehlungen abzuleiten.“

Welche Krankheiten lassen sich bei vulnerablen Gruppen (Jugendliche und Ältere) mit niedrigem Sozialstatus vermehrt feststellen?
Nagel: „An dieser Stelle müssen wir das Alter berücksichtigen. Bei Kindern und Jugendlichen sind Übergewicht, Asthma und Allergien, insbesondere Heuschnupfen, besonders stark im Ruhrgebiet ausgeprägt. Hingegen finden wir bei älteren Menschen mit niedrigem Sozialstatus vor allem Bluthochdruck, Adipositas oder Lungenerkrankungen wie COPD. Hier ist der soziale Gradient besonders hoch.“

Woran liegt das?
Nagel: „Die möglichen Ursachen sind vielfältig. Wir beobachten ja aktuell in der Corona-Pandemie auch eine Häufung von Ansteckungen und schweren Verläufen in sozialen Brennpunkten. Inzwischen wissen wir, dass dies nicht allein z.B. mit beengtem Wohnraum zu erklären ist, sondern dass Menschen hier auch in „gefährlicheren“ Berufen arbeiten, als Kassierer etwa oder Kurierfahrer. Sie tragen also ein deutlich höheres Infektionsrisiko. Ähnlich komplex verhält es sich mit dem Krankheits- und Sterberisiko der von uns untersuchten Gruppen. Es gibt eine geringer ausgeprägte Gesundheitskompetenz, Vorsorgeuntersuchungen werden nicht wahrgenommen oder der Kinderarzt seltener kontaktiert. Ein niedrigerer Bildungsgrad erschwert offensichtlich den Zugang zur ärztlichen Versorgung. Die vorhandenen Barrieren werden aber auch von Seiten der Anbieter aufgebaut.“

Sowohl jüngere wie auch ältere Menschen beklagen vielfach unerfüllte Behandlungswünsche. Können Ihre Studienergebnisse erklären, warum dies so ist?
Nagel: „Unsere Studie liefert Hinweise auf ein hohes Vorkommen unerfüllter Behandlungswünsche bei dieser Personengruppe: Fast zwei Drittel der Befragten geben an, dass ihre Wünsche nach gesundheitlichen Leistungen unerfüllt bleiben. Dabei spielen insbesondere die fachärztliche, hausärztliche und zahnmedizinische Versorgung eine Rolle. Im Bereich der Fachärzte zeigt sich das Problem, einen Termin in einer akzeptablen Wartezeit zu erhalten. Eine Besonderheit ist, dass über alle Versorgungsbereiche hinweg sich Patienten nicht von den Ärzten verstanden fühlen. Diese sind z.B. auf das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, aber auch auf mangelnde Aufklärung oder fehlende Empathie der Leistungserbringer zurückzuführen. Vorangegangene Forschungsarbeiten weisen ja bereits auf ein grundsätzliches Problem in der Arzt-Patient-Kommunikation hin. Viele Patienten wissen beim Verlassen der Praxis nicht, was genau der Arzt ihnen gerade mitgeteilt hat. Bei den von uns untersuchten älteren und jüngeren Menschen mit niedrigem Sozialstatus könnten diese Verständnisschwierigkeiten bspw. in Bildung, sozialer Prägung, Migrationshintergrund oder einer geringeren Gesundheitskompetenz begründet sein. Ergebnis sind Enttäuschungs- und Frustrationserfahrungen gegenüber dem Gesundheitssystem.“

Stellen die häufig geforderten Zuzahlungen für ärztliche Leistungen eine zu hohe Hürde für eine angemessene Behandlung von Patienten mit niedrigem Sozialstatus dar?
Nagel: „Die spannende Erkenntnis lautet hier: Zuzahlungen werden vor allem von Menschen, die es sich leisten können, als dominantes Problem empfunden! Zudem könnten Patienten mit einem niedrigeren sozialen Status möglicherweise erst gar nicht mit solchen Angeboten konfrontiert werden, weil sie so eingeschätzt werden, als könnten sie sich z.B. IGEL-Leistungen sowieso nicht leisten. Auch ein geringeres Bewusstsein darüber, welche Leistungen ihnen zur Verfügung stehen, könnte bei diesen Patienten ausschlaggebend sein. Will man vermeiden, dass Menschen aus vulnerablen Gruppen durch eine schlechte zahnmedizinische oder orthopädische Versorgung zunehmend stigmatisiert werden, braucht es hier einen Paradigmenwechsel.“

Sie haben u.a. im Franz-Sales-Haus in Essen Menschen mit Behinderung befragt. Diese sprechen von „Ignorieren der Patientenwünsche auf Seiten der Leistungserbringer, mangelnder Aufklärung sowie fehlender Empathie im Umgang“. Was muss sich auf Seiten der Ärzte oder der Gesundheitseinrichtungen ändern?
Nagel: „Zunächst sollten wir strukturelle Veränderungen angehen. Ein Gespräch mit einem behinderten Patienten dauert naturgemäß länger, also muss die Arzt hierfür Abrechnungsmöglichkeiten bekommen. Finanzielle Anreize funktionieren bekanntlich am besten. Darüber hinaus brauchen wir in Aus- und Fortbildung der Ärzte den Schwerpunkt Sozial- und Kultursensibilität. Wie spreche ich als Arzt mit einem Menschen, wie drücke ich mich in einer leichten, verständlichen Sprache aus.“

Welche weiteren Handlungsnotwendigkeiten bzgl. der Gesundheitsversorgung ergeben sich darüber hinaus im Ruhrgebiet?
Nagel: „Grundsätzlich ist eine zielgruppenspezifische Ausrichtung von Maßnahmen essenziell für eine Verbesserung der Situation. Unsere Studienergebnisse geben beispielsweise Hinweise auf einen besonderen Handlungsbedarf im Bereich der Arzt-Patienten-Kommunikation. Ursache hierfür ist die für die Patienten weniger verständliche Fachsprache der Ärzte sein aber auch ein zu geringes Verständnis der Sprach- und Lebenssituation vulnerabler Gruppen. Hier braucht es Schulungen für Ärztinnen und Pflegekräfte, welche insbesondere den Umgang und die Kommunikation mit Personen mit niedrigem Sozialstatus fokussieren. Durch eine bessere Verständigung wird eine Vertrauensbasis geschaffen werden, die für eine erfolgreiche Behandlung essenziell ist. Ein weiterer Ansatzpunkt ist eine verstärkte Prävention oder die Ausweitung des Angebots von sogenannten „Gesundheitslotsen“. Diese Fachleute sollten stadtteilbezogen überall dort eingesetzt werden, wo sich Fragen der Gesundheitsversorgung auftun, d.h. nicht nur in medizinischen Institutionen, sondern zum Beispiel auch in allen Sozialeinrichtungen. Sie können in einer auf die Zielgruppe angepassten Art und Weise helfen, den richtigen Arzt zu finden, Termine zu vereinbaren oder Nachfragen zur Facharztbehandlung zu formulieren. In der Gesamtschau müssen wir bestimmte Denkschemen aufbrechen, wenn es gilt, ein 50- bis 70-fach erhöhtes Risiko zu erkranken in bestimmten sozialen Gruppen zu verringern. Dazu sollten wir differenzieren zwischen der Eigenverantwortung der Menschen und der Verantwortung der Gesellschaft. So muss auf vulnerable Gruppen in der Gesundheitsversorgung noch mehr Rücksicht genommen und zielgerichtete Hilfestellungen angeboten werden. Wenn bestimmte Gruppen in der Bevölkerung ein systematisch höheres Risiko haben zu erkranken oder früher zu sterben, muss man die Versorgung entsprechend anpassen, ähnlich wie wir es bei der Pandemiebekämpfung gesehen haben. Wir müssen uns in der Krankenversorgung vom Gleichheitsgrundsatz zu Gunsten einer Alters- und Sozialpriorisierung verabschieden.“